Petra Draxl, seit 2023 AMS-Co-Vorständin, erklärt im Interview mit Selektiv warum der Talboden der Arbeitslosigkeit in Österreich noch nicht durchschritten ist und welche Branchen ihr aktuell besonders Sorge bereiten. Zwar steige das mittelfristige Arbeitskräfteangebot doch „die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden sind seit Jahren rückläufig.“ Im Bereich der Arbeitsmarktintegration sieht die AMS-Chefin deutliche Verbesserungen. „Bei den Flüchtlingen, die 2015/2016 zu uns kamen dauerte es 61 Monate, bis 50 % in Beschäftigung waren. Bei der Kontrollgruppe 2020 nur noch 26 Monate.“ Eine Bleibepflicht für Asylberechtigte und subsidiär Schutzberechtigte wäre für Draxl dennoch sinnvoll. „Derzeit leben 75 % der arbeitslosen Flüchtlinge in Wien. Österreichweit einheitliche Sozialleistungen würden dieser Tendenz entgegenwirken.“
Gemäß jüngster Interimsprognose der OeNB wird die heimische (Register-)Arbeitslosigkeit 2025 auf 7,5 % steigen und erst 2027 wieder langsam sinken. Müssen wir uns auf zwei weitere durchwachsene Jahre auf dem Arbeitsmarkt einstellen?
Petra Draxl: Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen lassen noch keine Trendumkehr am Arbeitsmarkt erkennen. Die US-Zollpolitik verunsichert Unternehmen. Der Krieg in der Ukraine dauert weiter an. Der für Österreich wichtige deutsche Markt dürfte heuer nur ein Mini-Wachstum um die 0,3 % verzeichnen. Die Schwache Konjunkturdynamik reicht nicht für eine Arbeitsmarkterholung. Insgesamt kann ich noch nicht erkennen, dass wir bei der Arbeitslosigkeit den Talboden durchschritten hätten. Auch in den kommenden Jahren werden sich Zuwächse und Rückgänge bei der Arbeitslosigkeit weitgehend die Waage halten, sodass unserer Prognosedaten für die kommenden fünf Jahre nahelegen, dass das Niveau der Arbeitslosigkeit nahezu unverändert bleiben wird.
Welche Personengruppen sind aktuell besonders von Arbeitslosigkeit betroffen, welche Branche macht Ihnen am meisten Sorgen?
Insgesamt stieg die Zahl der Arbeitslosen und Schulungsteilnehmer_innen im Vergleich zum Vorjahr im September 2025 um 5,8 %. Damit steigt die monatliche Arbeitslosigkeit in Österreich zum 30. Mal in Folge (seit April 2023). Sie wächst quer durch alle großen Branchen, in sämtlichen Bundesländern (in Kärnten nur minimal) und betrifft jede Altersgruppe. Besonders betroffen sind Personen über 50 (+7,2 %), Langzeitarbeitslose (+26,0 %) und Frauen (+7,9 %). Nach Branchen betrachtet ist der Bau am wenigsten betroffen (+0,7 %). Handel (+9,4 %) und Industrie (+8,8 %) zeigen einen überdurchschnittlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit.
Ab 2026 plant die Regierung mit einer „Aktion 55Plus“. Diese soll existenzsichernde soziale Arbeit für Langzeitarbeitslose schaffen. Das weckt Erinnerungen an die Aktion 20.000. Spricht die Evidenz für derartige Beschäftigungsprogramme?
Wenn ältere Personen von Arbeitslosigkeit betroffen sind, ist es für sie besonders schwer wieder Fuß zu fassen. So gab es Ende August 2025 22.339 langzeitarbeitslose Personen zwischen 25 bis 49 Jahren und in der deutlich kleineren Gruppe der über 50-Jährigen 22.863. Mit intensiver Unterstützung – das reicht von Coaching über Umschulung und Weiterbildung bis hin zu gesundheitlicher Rehabilitation – kann es gelingen, diesen Personen wieder Perspektiven am Arbeitsmarkt zu eröffnen und erfolgreich zu vermitteln. Da muss ich aber auch die Unternehmen in die Pflicht nehmen.
Inwiefern?
Eine von uns beauftragte Studie zeigt, dass es eindeutig Diskriminierungen älterer Arbeitsloser gibt: Wir haben 700 fiktive Bewerbungen verschickt, die sich nur darin unterscheiden haben, dass die Bewerber 35 oder 52 Jahre alt oder langzeitarbeitslos waren. Ältere wurden um 12 % weniger zu Vorstellungsgesprächen eingeladen und Langzeitarbeitslose zu 11 %. Oft wird kein Unterschied zwischen Menschen gemacht, die nicht arbeiten können und jenen, die sehr wohl können.
Die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden sind seit Jahren rückläufig.
Petra Draxl
Die Zahl der Erwerbstätigen wird nun in den nächsten Jahren sinken, gleichzeitig nehmen die durchschnittlich geleisteten Arbeitsstunden von Beschäftigten seit Jahren ab. Geht sich das noch aus oder müssen wir uns darauf einstellen, in Zukunft alle etwas länger zu arbeiten?
Unsere Studien belegen diese Annahme nicht: Laut unserer Arbeitsmarktprognose (von Synthesis), wird in den nächsten fünf Jahren das Arbeitskräfteangebot in Österreich um rund 114.600 Personen steigen. Wobei besonders Frauen eine entscheidende Rolle bei der Erweiterung des Arbeitskräftepotenzials spielen werden. Was wir allerdings auch beobachten: Die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden sind seit Jahren rückläufig. Seit dem Jahr 1995 sanken sie von 1.641 auf 1.416. Im gleichen Zeitraum stieg die Anzahl der Beschäftigten um fast eine Million (2.963.000 auf 3.945.000). Geschuldet ist diese Entwicklung einem deutlichen Anstieg der Teilzeitbeschäftigten.
Im Rahmen der Sozialhilfe neu soll ein Teil der Sozialhilfebezieher zukünftig vom AMS betreut werden. Welche Vorteile bringt das aus Ihrer Sicht?
Ziel ist, dass zusätzlich zur Betreuung von jenen Sozialhilfebezieher_innen, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, in Zukunft auch die Geldauszahlung österreichweit aus einer Hand vom AMS erfolgt. In der Vergangenheit gab es leider ineffiziente Schnittstellen, die sich bremsend auf Jobvermittlungen ausgewirkt haben. Wir erwarten durch die Reform eine raschere und nachhaltigere Vermittlung dieser Personen in den Arbeitsmarkt, wenn sie aus einer Hand heraus betreut werden.
Die Arbeitsmarktintegration Geflüchteter in Österreich verlauft immer noch recht zäh. Nur 57 Prozent der Flüchtlinge aus dem Jahr 2016 haben inzwischen einen Job gefunden. Was sind derzeit die größten Stolpersteine, die einen rascheren Eintritt von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt verhindern?
Wir beobachten jeden Jahrgang der Flüchtlinge getrennt. Ja, korrekt: von der Kontrollgruppe 2016 sind aktuelle 57 % in Beschäftigung und 21 % beim AMS gemeldet. Die restlichen 22 % aber sind gar nicht bei uns als arbeitssuchend gemeldet; weil sie etwa Kinderbetreuungspflichten haben, schon in Pension sind, eine Ausbildung machen, verstorben, aus Österreich weggezogen oder heimgekehrt sind. Daher ist es wichtig zu verstehen, dass 100 % nicht zu erreichen sind. Eine andere Betrachtung zeigt, dass: 77 % dieser Personen 2024 schon eine Beschäftigung mit länger als 180 Tagen hatten. Außerdem ist ein weiterer Aspekt wichtig: Wir sind bei der Vermittlung in den Arbeitsmarkt deutlich effizienter und schneller geworden: Bei den Personen, die 2015/2016 zu uns kamen dauerte es 61 Monate, bis 50 % in Beschäftigung waren. Bei der Kontrollgruppe 2020 nur noch 26 Monate.
75 % der arbeitslosen Flüchtlinge leben in Wien.
Petra Draxl
Studien des Wifo bzw. AMS kommen zum Schluss, dass es eine wohlfahrtsgetriebene Binnenmigration innerhalb Österreichs gibt. Während sich in Westösterreich die meisten offenen Stellen befinden, ist vor allem Wien ein attraktives Zielbundesland für Flüchtlinge. Sollte Wien seine Sozialleistungen auf den Bundesschnitt senken, um das zu unterbinden?
Wir haben schon mehrfach darauf hingewiesen, dass es aus der Sicht des Arbeitsmarktes Sinn machen würde, eine befristete Bleibepflicht für Asylberechtigte und subsidiär Schutzberechtigte einzuführen. Es ist tatsächlich so, dass die meisten Arbeitslosen und Schulungsteilnehmer_innen dieser Gruppe in Wien sind – Ende August waren es 31.034 und damit 75 %. Österreichweit einheitliche Sozialleistungen würden dieser Tendenz entgegenwirken.

Die Bildungskarenz wird 2026 durch die neue Weiterbildungszeit ersetzt. AMS-Vorstand Johannes Kopf hat in der Vergangenheit immer wieder Kritik an Ersterer geübt. Sind Sie mit dem aktuellen Begutachtungsentwurf zufrieden oder bedarf es noch Anpassungen? Wenn ja, welche?
Der Vorschlag zur Reform setzt meines Erachtens bei den richtigen Hebeln an: Es geht darum, qualifizierte Aus- und Weiterbildung zu fördern. Der Fokus liegt auf fachlicher Qualifizierung. Das AMS sollte die Kurse in Zukunft auf ihre berufliche Verwertbarkeit noch vor der Förderung prüfen – das war bisher nicht möglich. Weiters muss echter Unterricht nicht nur Selbststudium stattfinden.
Die vorgesehene Verpflichtung von Arbeitgebern, einen Teil der Weiterbildungskosten zu übernehmen, könnte allerdings dazu führen, dass wichtige Qualifizierungen in Zukunft ausbleiben.
Der geplante Selbstbehalt bei Besserverdienenden von 15 % sollte meines Erachtens kein Hindernis sein. Außerdem ist eine Ausbildung für die Unternehmen auch ein Investment in die Fähigkeiten ihrer Mitarbeiter_innen. Der geplante Selbstbehalt für Betriebe ist durchaus ein Anreiz für Unternehmen sich auch mit der Verwertbarkeit und Sinnhaftigkeit einer Weiterbildung auseinanderzusetzen.
Es wird derzeit viel über KI als wichtiges Zukunftsfeld diskutiert. Besteht nicht auch die Gefahr, dass diese zum Job-Killer wird? Vor allem in niedrig qualifizierten Arbeitsmarkt-Segmenten?
Ja, Künstliche Intelligenz wird Jobs wegnehmen. Das war noch bei jeder Innovation so. Der Webstuhl hat Webern, die Eisenbahn Kutschern oder der Traktor Landarbeitern Jobs weggenommen. Aber gleichzeitig sind immer mehr und neue Berufe entstanden. Also manche Jobs werden wegfallen aber gleichzeitig werden andere und unter dem Strich sogar mehr neue Jobs entstehen. Es gibt keinen Grund sich vor Innovation zu fürchten – es geht darum sie zu nutzen und richtig einzusetzen.