Das österreichische Arbeitsmarkt-Scheinwunder
Matthias Reith blickt auf 15 Jahre Erfahrung bei Raiffeisen Research zurück. Als Senior Ökonom analysiert und kommentiert er Österreichs Volkswirtschaft sowie den heimischen Immobilienmarkt. Ferner befasst sich Matthias Reith mit anderen Euroländern sowie der gesamten Eurozone und betrachtet dabei neben der Konjunktur insbesondere fiskalpolitische Fragestellungen.
Es ist mittlerweile traurige Routine: Seit 30 Monaten ist das AMS jeden Monatsersten Überbringer schlechter Nachrichten. Im September 2025 waren hierzulande um knapp 7 % mehr Menschen arbeitslos als ein Jahr zuvor, seit dem Tiefpunkt (März 2023) beläuft sich das Plus auf 31 %. Eine Trendwende ist kurzfristig nicht in Sicht. Bevor die Arbeitslosigkeit sinkt, dürfte sie erst noch weiter steigen. Allerdings: Mit 330.000 (saisonbereinigt) sind kaum mehr Personen auf Jobsuche als 2017, obwohl damals von Rezession keine Rede sein konnte. Gleichzeitig waren im September laut AMS-Statistik 3,996 Mio. Menschen in Österreich beschäftigt – so viele wie in keinem September zuvor. Zwar wächst die Zahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer seit Anfang 2023 nicht mehr, sie schrumpft aber auch nicht. In einer Zeit, in der sich die österreichische Wirtschaft gerade erst mühsam aus der Rezession herausgearbeitet hat, würde man eigentlich anderes erwarten.
Rekordbeschäftigung trotz Langzeitrezession. Wie passt das zusammen? Der Blick unter die Oberfläche zeigt: Das „Beschäftigungswunder“ ist in Wirklichkeit ein „Scheinwunder“. Und das aus drei Gründen.
Erstens: Die Gesamtbeschäftigung mag dem konjunkturellen Gegenwind trotzen. In der Privatwirtschaft und insbesondere in der arg gebeutelten Industrie sind die Auswirkungen der rekordlangen Rezession aber unübersehbar. Während die Zahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Österreich seit Anfang 2023 um 0,4 % gestiegen ist, gingen in der Industrie immerhin gut 3 % der Arbeitsplätze verloren (Herstellung von Waren gemäß VGR). Nur im Nachgang der Finanzkrise wurden noch mehr Stellen gestrichen (-6 %). In der Privatwirtschaft insgesamt (Marktdienstleistungen, Industrie, Bau, Landwirtschaft) ist die Beschäftigung in den letzten gut 2 Jahren um 1,1 % gesunken.
Ein gänzlich anders Bild zeigt sich im öffentlichen Sektor. Denn während private Unternehmen den Rotstift angesetzt haben, stellten Staat und staatsnahe Sektoren (Gesundheit, Bildung, Soziales, Verteidigung) ein. Im zweiten Quartal 2025 arbeiteten dort um 4,7 % mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als Anfang 2023, in keiner anderen Branche wurde derart viel Personal aufgestockt. Der Beschäftigungsboom in den Amtsstuben ist nicht das Resultat ausufernder Arbeit, derer nur eine (noch) größere Zahl an Staatsbediensteten Herr werden könnte. In öffentlicher Verwaltung und staatsnahen Dienstleistungen arbeiten zwar deutlich mehr Menschen als noch vor ein paar Jahren, es wird in Summe aber kaum mehr gearbeitet. Das Stundenvolumen ist in etwa auf dem Niveau von 2019, für dessen Bewältigung nun aber mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer benötigt werden. Auch vor dem Staatsdienst hat der Teilzeitboom keinen Halt gemacht.
Der Staat stellt ein, die Industrie baut ab: Das hat auch Auswirkungen auf die Produktivität. Eine Industriearbeiterin oder ein Industriearbeiter erwirtschaftet pro Stunde 63 Euro (+50 % seit 2000), in den staatsnahen Sektoren sind es nur 35 Euro. Und auch wenn die Digitalisierung längst Einzug in die Amtsstuben gehalten hat: Große Produktivitätsfortschritte sucht man dort vergeblich. Im letzten Vierteljahrhundert (2000-2024) ist der öffentliche bzw. staatsnahe Sektor kaum produktiver geworden (+9 % bzw. knapp 0,4 % p.a.). Anders die Industrie, in der trotz jüngst rückläufiger Produktivität pro Stunde immer noch um 50 % mehr erwirtschaftet wird als 2000. Das hat zwei Gründe. Erstens: Produkt- und Prozessinnovationen sind im Staatsdienst eine Seltenheit, in der Industrie hingegen an der Tagesordnung. Produkte und Produktionsweisen sind dort heute ganz andere als vor 25 Jahren. Das lässt viel größere Produktivitätssprünge zu als beispielsweise in Behörden und Ämtern – Digitalisierung & KI hin oder her. Und zweitens: Österreichische Industriebetriebe stehen in globaler Konkurrenz, österreichische Amtsstuben nicht. Um im globalen Wettlauf mithalten zu können, sind die vom Export abhängigen Industrieunternehmen zum „Besserwerden verdammt“.
Der Staat stellt ein, die Industrie baut ab: Das hat auch Auswirkungen auf die Produktivität.
Matthias Reith
Der Bedeutungsgewinn des Staates auf Kosten der produktiveren Privatwirtschaft spricht daher für tendenziell niedrigere Produktivitätszuwächse – und damit Wohlstandsgewinne. Das schränkt den Verteilungsspielraum in künftigen Lohnverhandlungen zusätzlich ein. „De-Industrialisierung“ ist somit auch aus gesamtgesellschaftlicher Sicht ein „Wohlstandskiller“.
Zweitens: Die Beschäftigung mag sich weiterhin auf oder nahe dem Rekord befinden, für die in Österreich geleisteten Arbeitsstunden gilt das nicht. Durch die Rezession wird weniger gearbeitet, das Stundenvolumen ist seit Ende 2019 um 1 % gesunken, die Beschäftigung aber um 4 % gestiegen. Wie viel in Österreich insgesamt gearbeitet wird (Stundenvolumen), ist derzeit also der eigentliche „Seismograph“ am Arbeitsmarkt für den konjunkturellen Gegenwind – und nicht wie viele in Österreich arbeiten.

Der in Österreich in den letzten Jahren stattgefundene „Run“ auf die Teilzeit – drittens – ist somit durchaus etwas, das momentan den Arbeitsmarkt entlastet, sprich einen stärkeren Anstieg der Arbeitslosigkeit verhindert. Arbeiteten Österreicherinnen und Österreicher 2019 durchschnittlich noch knapp 32 Wochenstunden, waren es 2024 nur mehr 30 Stunden (-5,5 %). Seit Ende 2019 gibt es 3 % weniger Vollzeitstellen und 12 % mehr Teilzeitstellen, in der Eurozone hingegen 5 % mehr Vollzeit- und nur um 2 % mehr Teilzeitstellen. Die weniger gewordene Arbeit wird also auf mehr Schultern verteilt. Ohne den „Teilzeitboom“ wäre die aktuelle Rekordbeschäftigung keine solche und das Beschäftigungsniveau in stärkerem Maße Spiegelbild der konjunkturellen Widrigkeiten: Kehrten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu ihren Arbeitsgewohnheiten von vor Corona zurück (sprich mehr Vollzeit und Überstunden, weniger Teilzeit), würde sich die (international vergleichbare) Arbeitslosenquote von 5 auf 10 % glatt verdoppeln. Österreich befände sich in der Arbeitslosenstatistik der EU-Länder auf dem 4. statt auf dem 16. Platz. Der Problemdruck und das Problembewusstsein wären ungleich größer.
Ohne den „Teilzeitboom“ wäre die aktuelle Rekordbeschäftigung keine solche.
Matthias Reith
Der Teilzeitboom hat in den letzten Jahren also das wahre Ausmaß der Rezession in der Arbeitslosenstatistik „verschleiert“. Kurzfristig mag das positiv sein, langfristig ist das jedoch ein Problem. Würden alle Arbeitnemerinnen und Arbeitnehmer so arbeiten wie vor Corona, hätten wir auf einen Schlag 180.000 mehr Vollzeitstellen. Die fehlen vielleicht nicht jetzt, spätestens aber im nächsten Aufschwung … und bremsen dann zusätzlich die ohnehin schon geschmälerten Wachstumsperspektiven. Das gilt umso mehr, da der Pool an (potenziellen) Arbeitskräften (Erwerbspersonen) ab 2028 demografisch bedingt kleiner wird. Über kurz oder lang führt also kein Weg daran vorbei, dass weniger Menschen (wieder) mehr arbeiten.
Über kurz oder lang führt also kein Weg daran vorbei, dass weniger Menschen (wieder) mehr arbeiten.
Matthias Reith
Längerfristig steht und fällt der gesellschaftliche Wohlstand mit der Produktivität. Maßnahmen, um das zuletzt lahmende Produktivitätswachstum wieder auf Trab zu bringen, sollten also eher heute als morgen umgesetzt werden. Das Gute daran: Derartige Reformen müssen nicht wehtun (z. B. weniger Bürokratie) und schaffen mittelfristig die Basis für nachhaltige Reallohnanstiege. Und natürlich: Es ist kein Ruhmesblatt, Vize-Europameister in Sachen Teilzeit zu sein.
Ja, Betreuungspflichten spielen eine Rolle. Hier besteht Handlungsbedarf. Für ein Drittel der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist das der Hauptgrund für Teilzeitarbeit. Zur Wahrheit gehört aber auch: Mehr als ein Fünftel (22 %) möchte gar keine Vollzeitanstellung. Für jeden fünften der erwerbstätigen Österreicherinnen und Österreicher gilt somit „weniger ist mehr“. Steuerliche Gründe sind hier zu nennen. In nur wenigen EU-Ländern ist es noch unattraktiver, von Teilzeit auf Vollzeit umzusteigen. Das mehr an Stunden spiegelt sich kaum im Börserl wider. Aber auch eine durch Corona geänderte Sichtweise auf das (Arbeits-)Leben spielt eine Rolle.