Künstliche Intelligenz: Europa hat eine zweite Chance

10. Juni 2025Lesezeit: 4 Min.
Kommentar von Markus Hengstschläger

Der Genetiker Markus Hengstschläger ist Leiter des Instituts für Medizinische Genetik und Organisationseinheitsleiter des Zentrums für Pathobiochemie und Genetik an der Medizinischen Universität Wien und u.a. auch stellvertretender Vorsitzender der österreichischen Bioethikkommission, Aufsichtsratsvorsitzender der Gesellschaft für Forschungsförderung Niederösterreich, Kuratoriumsmitglied des Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds und Gründer und Leiter des Symposiums „Impact Lech“.

In der Phase der Grundlagenforschung im Bereich künstliche Intelligenz (KI) hat sich Europa sehr gut geschlagen. Bei der 2. Phase der Skalierung, also mittels großer Datenmengen und Rechenleistungen leistungsfähige Modellen zu bauen, und der 3. Phase der Industrialisierung, in der es darum geht KI Modelle auf konkrete Anwendungen und Branchen zuzuschneiden, hat Europa massiv den Anschluss verpasst und liegt heute im globalen Wettkampf gegenüber USA und China deutlich zurück. So lautet das Credo des im ecoWing Verlag erschienenen Buches „Was kann künstliche Intelligenz?“ von KI-Pionier Univ.-Prof. Dr. Sepp Hochreiter von der Johannes Kepler Universität in Linz.

Ich kenne Sepp schon lange (wir hatten vor langer Zeit gemeinsame Forschungspläne) und ich konnte in meiner 10-jährigen Periode als Universitätsrat in Linz sowohl seine enorme Expertise als auch sein beeindruckendes Engagement für diesen Forschungsbereich noch näher kennenlernen. Sepp ist zugleich ein Spitzenforscher, dessen in Siri, Alexa oder Google Translate verwendete Entwicklung der Long-Short-Term Memory-Technologie maßgeblich zur Entwicklung von KI beigetragen hat, und ein exzellenter Wissensvermittler. Leserinnen und Leser des nun vorliegenden Buches werden nachvollziehen können, warum es mir ein Anliegen war, Sepp davon zu überzeugen, selbiges zu schreiben.

Das Buch ist ein spannender Blick zurück und ein noch spannenderer Blick nach vorne. Was ist KI wirklich, wie funktioniert deep learning, wo arbeitet KI bereits heute effizienter als der Mensch und welche Zukunftschancen liegen darin – in der Landwirtschaft, der Mobilität, der Industrie, der Medizin, der Genetik, oder im Kampf gegen den Klimawandel? Man liest von der großen Bedeutung von KI-basierten Modellen und Simulationen, die in Form digitaler Zwillinge virtuelle Abbilder realer Systeme in Echtzeit sein können. Man erfährt aber auch, dass das menschliche Gehirn anpassungsfähiger und flexibler ist, weniger Daten als KI benötigt, um zu generalisieren, Erfahrungen besser verknüpfen, Erlerntes auf neue Kontexte anwenden, Informationen durch Emotion gewichten und Informationslücken durch kreative Rekonstruktion überbrücken kann.

Der Mensch ist ein Meister der Abstraktion (Unwesentliches ignorieren um effizient arbeiten zu können), er kann aber auch scheinbar unwichtige Details erfassen und später verwenden. Er kann Ergebnisse im gesellschaftlichen Kontext oder unter ethischen Gesichtspunkten bewerten und er hat Intuition und Empathie. KI hat keinen eigenen Willen, verfolgt keine Interessen, hat kein echtes Verständnis von der Welt und auch kein Bewusstsein – so der Autor. Folgerichtig liegt die Zukunft seiner Ansicht nach in der „kooperativen Intelligenz“ der Maschine und des Menschen, dessen Kontextverständnis, Kreativität, Problemlösung und kritisches Denken weiterhin unverzichtbar bleiben. Damit diese Kooperation auch gelingt, gilt es die bestehenden Ängste gegenüber der „Black Box“-Natur von KI abzubauen. Das Konzept einer „Teil-Erklärbarkeit“ und einer „Chain of Thought“ (die Angabe von Zwischenschritten, die für eine Lösung notwendig waren), können das notwendige Vertrauen des Menschen gegenüber KI unterstützen. Sepp Hochreiter meint, dass Prompts wie „Let´s think step by step“ dabei hilfreich sein können.

„Der Mensch ist ein Meister der Abstraktion.“

Markus Hengstschläger

Und er spricht von einer zweiten Chance für Europa, die unbedingt genutzt werden sollte. Wir befinden uns gerade in der Phase der Industrialisierung von KI, in der sie weiter in die Breite gebracht werden soll, in Unternehmen und in alltäglichen Anwendungen. Hier können die Stärken Europas, wie technisches Spezialwissen, spezialisierte Industriebranchen und die hervorragende Forschungstradition, einen Unterschied machen. Natürlich braucht es dafür auch Geld. Da kommt die von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Februar dieses Jahres ins Leben gerufene Initiative „InvestAI“, mit der 200 Mrd. Euro für Investitionen in KI mobilisiert werden sollen, gerade recht. Es braucht, nach Ansicht des Autors, aber auch Fehlerkultur, eine entsprechende Durchlässigkeit zwischen akademischer Forschung und Industrie, die Zugänglichkeit von Daten für Forschung und Fachkräfte mit interdisziplinärem Denken. Ein wirklich lesenwertes Buch über ein wahrlich relevantes Thema unserer Zeit.

Buchtipp

Sepp Hochreiter, Was kann künstliche Intelligenz?, 208 Seiten, ecoWing 2025

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