Energie-Experte Johannes Benigni © Benigni / Montage: Selektiv
Energie-Experte Johannes Benigni © Benigni / Montage: Selektiv
Interview

Erdgas: „Die EU ist dabei, den gleichen Fehler wieder zu machen“

Die Turkstream-Pipeline ist die letzte verbleibende Leitung, über die russisches Gas nach Europa fließt. Wird sie im Zuge des Ausstiegs aus russischem Gas für Lieferungen nach Europa geschlossen, hat das für Österreich Folgen: „Wenn die Turkstream-Pipeline auch noch ausbleibt, dann werden auch Ungarn, die Slowakei und schließlich auch die Ukraine über unsere Erdgasleitungen versorgt werden müssen. Dann wird der Preis nochmals steigen“, erklärt Energie-Experte Johannes Benigni. Er schlägt vor, die Pipeline weiter zu nutzen, aber eben nicht mehr für russisches Gas – technisch könnte das zur Herausforderung werden. Ein Problem sieht er auch in der wachsenden Abhängigkeit von Flüssiggaslieferungen aus den USA: „Wir führen in der EU gerade einen Wirtschaftskrieg mit den USA und kaufen die Hälfte unseres Flüssiggases aus Amerika und keiner findet das beängstigend“.

Die EU will bis Anfang 2028 komplett aus russischem Erdgas aussteigen. Das ist schon in 2,5 Jahren – geht sich das aus und welche Herausforderungen birgt das?

Johannes Benigni: Für uns in Österreich ist es relevant, dass wir hier im Herzen Europas liegend gut versorgt sind. Dafür gibt es viele Möglichkeiten. Aus dem Osten könnte zum Beispiel Gas aus Aserbaidschan kommen. Im Europäischen Parlament hat man dazu Bedenken aufgrund der Menschenrechts-Verstöße. Das ist aktuell verständlich. Eine andere alternative Möglichkeit ist die Turkstream-Pipeline, die derzeit unsere Nachbarn in Osteuropa versorgt. Wenn diese allerdings auch wegfällt, weil über sie auch russisches Gas transportiert wird, wird es schwierig, da wir dann die einzigen sind, die freie Leitungskapazitäten haben, um nach Osteuropa Gas durchzuleiten, das dort benötigt wird. Dadurch wird es auch bei uns zu Engpässen kommen und eine Nachfragefrustration bedeutet sicher volatilere Preise, also kurzum die kommenden Jahre werden eine Herausforderung.

Kann der geplante WAG-Loop, also der Pipeline-Ausbau in Westösterreich, die Situation entschärfen?

Der WAG-Loop soll bis Mitte 2027 fertig sein, hilft aber nur bedingt, was die Durchleitungskapazitäten von Gas angeht. Die WAG-Pipeline ist momentan nicht darauf ausgelegt, Volumen von Westen nach Osten zu fördern und schon gar nicht größere Volumina. Wenn es in Mitteleuropa weniger Gasangebot gibt, dann steigt der Gaspreis. Das sehen wir schon jetzt als Folge des ausbleibenden Ukraine-Transits. Ich verstehe, dass das politisch gewünscht ist, für Österreich bedeutet das aber konkret um 10 % höhere Preise für Erdgas. Das ist für Unternehmen, die hohe Preise schon vorher kaum stemmen konnten, ein Problem. Wenn die Turkstream-Pipeline auch noch ausbleibt, dann werden auch Ungarn, die Slowakei und schließlich auch die Ukraine über unsere Erdgasleitungen versorgt werden müssen. Dann wird der Preis nochmals steigen, denn der Central European Gas Hub (CEGH) in Wien, ist die letzte repräsentative Börse zu diesen Märkten und dort wird sich das widerspiegeln. Wenn Gas bei den Nachbarländern Österreichs, wie beispielsweise in Italien, auf Dauer 10 % weniger kostet als bei uns, wird das die Deindustrialisierung beschleunigen und Arbeitsplätze werden hier fehlen.

Was kann man tun, wenn auch der WAG-Loop nicht ausreicht?

Man sollte schauen, dass via Turkstream weiterhin Gas nach Osteuropa strömt. Derzeit kommt via Turkstream russisches Gas über die Türkei nach Bulgarien, Serbien, Ungarn und weiter in die Ukraine und die Slowakei. Dieser Gasfluss sollte aufrecht bleiben, wobei hier auch nicht-russisches Gas für die EU kommen sollte. In die Türkei fließt nämlich auch Gas aus Aserbaidschan oder aus dem Iran und sohin kann dieses Gas via Turkstream in eventu auch weiter zu unseren osteuropäischen Nachbarländern gelangen.

Ist es technisch möglich, zu garantieren, dass über diese Pipeline nur Gas aus bestimmten Ländern nach Europa fließt?

Das, was die EU vorschlägt, ist eigentlich nicht umsetzbar. Wenn die Türkei russisches Gas kauft und über die Turkstream aserbaidschanisches Gas liefert, kann man natürlich die Sorge haben, dass ein Etikettenschwindel passiert. Ich weiß aber nicht, ob wir anderen Nicht-EU-Ländern wirklich vorschreiben können, was diese tun sollen. Es ist ja schon der Gedanke, dass wir mit Sanktionen andere kriegsführende Länder dirigieren, kläglich – von Beginn an – zum Scheitern verurteilt gewesen. Das Problem in der EU-Energiepolitik ist, dass man sich darauf verkrampft, Weltpolitik machen zu wollen. Indien oder auch China sagt, der Ukraine-Krieg ist nicht unser Krieg, und beide sind froh, wenn sie Öl und Gas jetzt aus Russland günstiger bekommen. Die EU hat prophezeit, dass der Ukraine-Krieg in kürzester Zeit vorbei sein wird, wenn wir Energiesanktionen beschließen. Das war aber eine Fehleinschätzung und jeder, der sich mit dem Energiemarkt auskennt, wusste, dass das nicht funktionieren kann. Es wird auch jetzt nicht funktionieren, wenn wir das auf russisches LNG umlegen wollen. Wenn der internationale Markt funktioniert, werden die russischen LNG-Tanker eben woanders hinfahren und dafür andere LNG-Tanker zu uns kommen – der Markt gleicht das aus. Was aber wahrscheinlich passieren wird ist, dass Europa eine kleine Prämie zusätzlich bezahlen wird müssen, damit vertraglich garantiert wird, dass es kein russisches LNG ist. Auch die Türkei wird Aufschläge verlangen, wenn sie uns jetzt anderes, nicht-russisches Gas liefern soll. Bei uns wird Gas sohin teurer, aber eine Entscheidung auf dem kriegerischen Schlachtfeld wird dies nicht bringen können. Russland wird sich davon nicht beeindrucken lassen und über andere Routen Länder mit LNG beliefern können.

„Bei uns wird Gas teurer, aber eine Entscheidung auf dem kriegerischen Schlachtfeld wird dies nicht bringen können.“

Johannes Benigni

Warum wird die Umsetzung der EU-Verordnung zum Ausstieg aus russischem Gas technisch schwierig?

Das Problem ist, dass dafür eine Nachvollziehbarkeit und lückenlose Dokumentation notwendig wäre, woher das Gas kommt. Überall, wo Börsen zwischengeschaltet sind, können Sie das nicht umsetzen. Wenn man heute am CEGH Gas kauft, weiß man nicht, woher das kommt – das steht nicht im Vertrag. Der Vertrag wird aufgesetzt und läuft sodann viele Jahre. Liquide wird er aber erst dann, bevor er ausläuft. Die EU kann Änderungen also nur für die nächsten Verträge durchsetzen, die aufgelegt werden, die dann erst in mehreren Jahren in der Zukunft fällig sind. Heute haben wir ausreichend Liquidität in den bestehenden Verträgen aber keinen Herkunftsnachweis. Die Nachverfolgung ist einfach realitätsfremd. Wenn man trotzdem in bestehende Verträge eingreift, dann drohen der EU womöglich Schadenersatzklagen von jedem, der diese Verträge hält.

Ungarn und die Slowakei legen sich bei dem Verbot von russischem Gas quer – beide sind noch sehr abhängig von russischen Lieferungen. Gibt es für diese Länder Lehren aus Österreich?

Die große Lehre aus Österreich ist, dass man sich nicht von einem Lieferanten abhängig machen sollte. 80 % des Gases aus Russland zu kaufen, war ein Komplettversagen der Aufsichtsgremien und der vorherigen Politik. Das ist für mich heute noch nicht nachvollziehbar. Es ist in Ordnung, dass man jetzt von russischem Gas ganz weggegangen ist, obwohl dies zu Beginn sehr schwer war und mitunter auch sehr teuer. Die Möglichkeit, einen Lieferanten zu sanktionieren, sollte prinzipiell die Politik immer haben, allerdings sollten Sanktionen mehr nutzen als schaden. Deshalb bin ich auch ein Verfechter der Drittelstrategie – wenn ein Drittel der Gasversorgung, wegen Sanktionen gegen ein Lieferland, wegfällt, kann man für diese Gasmenge eine Alternative finden. Die EU ist jetzt aber dabei, den gleichen Fehler wieder zu machen. Mehr als 50 % des Pipeline-Gases kommt von Norwegen und mehr als 50 % der LNG/Flüssiggaslieferungen an die EU kommen aus Amerika. Einige EU-Länder haben dabei wieder eine zu hohe Lieferantenkonzentration. Wir müssen in Österreich Konsequenzen im Sinne der Drittelstrategie ziehen, in der EU ist man offenbar derzeit nicht in der Lage dazu. Ungarn bemüht sich seit Jahren, seine Lieferquellen zu diversifizieren und verhandelte etwa mit Aserbaidschan oder der Türkei. Meines Erachtens braucht Ungarn aber mehr Zeit, auch um seine Bemühungen, Liefermengen aus den Neptun Deep Förderungen in Rumänien zu erhalten, zu realisieren. Mein Vorschlag wäre daher, Turkstream erstmals bis 2030 aus der Verordnung auszunehmen und danach zu evaluieren. Ein großes Thema wird auch noch die Ukraine selbst werden. Wenn dort die Nachfrage wieder anspringt und sie die Gasversorgung dann komplett über uns decken wollen, dann ist das womöglich ein Fass ohne Boden. Das wird bei uns zu Engpässen und Preissteigerungen bei Gas und über die Merit-Order auch beim Strom führen. Daher ist es gerade die schlechteste Phase, um die Turkstream (für nicht-russisches Gas) nicht zu nutzen.

„80 % des Gases aus Russland zu kaufen, war ein Komplettversagen der Aufsichtsgremien und der vorherigen Politik.“

Johannes Benigni

Sehen Sie eine Chance, nach Ende des Krieges und einem möglichen Regimewechsel in Russland, wieder zu russischem Gas zurückzukehren?

Wir führen in der EU gerade einen Wirtschaftskrieg mit den USA und kaufen die Hälfte unseres Flüssiggases aus Amerika und keiner findet das beängstigend, dass Donald Trump das auch als Druckmittel verwendet. Wir sollten in der EU immer danach trachten, dass wir uns nicht erpressen lassen – weder von Russland noch von den USA. Irgendwann wird es Frieden geben und dann muss man den auch als solchen akzeptieren. Man kann nicht für ewig weitere und weitere Sanktionen beschließen. Am Ende gibt es in Russland 140 Millionen Einwohner und früher gab es viele österreichische Unternehmen, die dort erfolgreich im Handel waren. Warum sollte man diesen Markt jemand anderem überlassen? Im Übrigen gilt das auch für die Ukraine und im speziellen den Ukraine-Wiederaufbau.

Wie Sie schon gesagt haben, ist Gas am österreichischen Handelsplatz derzeit teurer als am nordeuropäischen TTF. Liegt das ausschließlich am Ende des Ukraine-Transits oder hat das auch noch andere Gründe?

Wir haben einfach weniger Alternativen und das merkt man sofort. Sollte durch ein Turksteam-Ende noch mehr Gas in Osteuropa nachgefragt werden, wird es noch teurer werden. Wenn die EU-Richtlinie umgesetzt wird, bewegen wir uns auf eine hochpreisige Insel zu und alle anderen EU-Länder außerhalb von Mitteleuropa werden Gas günstiger haben. Für Betriebe in Österreich, die im europäischen Wettbewerb stehen, wird das dann unglaublich schwierig.

„Wenn die EU-Richtlinie umgesetzt wird, bewegen wir uns auf eine hochpreisige Insel zu und alle anderen EU-Länder außerhalb von Mitteleuropa werden Gas günstiger haben.“

Johannes Benigni

Gleichzeitig füllen sich aber die österreichischen Speicher schneller, obwohl die Preise hoch sind. Warum das?

Im Vergleich zu den 85 % im Vorjahr sind die Speicher mit 68 % zu Beginn des Sommers noch nicht so voll. Eigentlich müsste die Strategie bei dem Speicher auch eine andere sein, nämlich jedes Energieversorgungsunternehmen (EVU) sollte, wie im Treibstoffmarkt, ein gewisses Volumen an Gas für seine Kunden vorhalten. Und dann haben wir noch 20 Terawattstunden an staatlichen Reserven, davon halte ich relativ wenig, diese könnte man einsparen und die Bevorratung anderweitig lösen.

Warum?

Ich halte nichts von der staatlichen Lagerhalterei, denn das erste Problem, das dann auftaucht, ist die Frage, wer wieviel davon bekommt. Man muss die EVUs in die Verantwortung nehmen. Jeder Unternehmer weiß, wann er welchen Bedarf hat und wann er an wen liefern muss. Das Ziel sollte nicht eine Fernsteuerung der EVUs sein, oder dass die Speicher voll sind, sondern, dass Unternehmen genügend Gas vorhalten, um einen ausreichenden Puffer zu haben, wenn etwas passiert, wie die temporäre Unterbrechung einer Lieferroute. Die EVUs werden selbst Gas bevorraten und einkaufen, wann es für sie passt.

Sind wir für den nächsten Winter gut gerüstet?

Vergangenen Winter gab es eine deutliche Nachfragesteigerung, nachdem 2022 und 2023 die Nachfrage auf Grund milder Winter und der hohen Preise gesunken war. Ich gehe aber davon aus, dass es sich beim Gasvorrat für den nächsten Winter gut ausgeht. Die Frage wird jedoch immer sein, nicht, ob genug Gas da ist, sondern ob man sich die Energie leisten kann. Die Gaspreise bei uns sind viermal so hoch wie in den USA, das ist unglaublich viel. In Österreich sind wir jetzt aktuell wieder bei zirka 40 Euro pro Megawattstunde und das ist für diese Jahreszeit sehr hoch.

„Die Gaspreise bei uns sind viermal so hoch wie in den USA, das ist unglaublich viel.“

Johannes Benigni

Wie sieht es generell mit der Transformation des Energiesystems aus – wo stehen wir auf der Reise?

Seit etwa 4 Jahren fährt die Internationale Energieagentur eine grüne Agenda. Damals hat die IEA gesagt, man soll nicht mehr in Öl und Gas investieren. Mittlerweile hat der IEA-Chef Fatih Birol vor zirka 2 Monaten in Houston bei einem Treffen der Öl-Industrie aufgefordert, wieder mehr in Öl- und Gasproduktion zu investieren. Man ist also draufgekommen, dass es so nicht geht. Da war man naiv, was die benötigten Energiemengen angeht. Derzeit liegt der weltweite Anteil der Erneuerbaren bei zirka 15 Prozent. Wenn man das in die Zukunft projiziert, liegen wir 2050 vielleicht bei 25 bis 28 Prozent. Die größte Veränderung wird es durch eine deutlich reduzierte Kohlenachfrage geben, aber bei Öl werden sich die Nachfragewerte international nur langsam ändern. Gas wird dabei sogar steigen und ebenso der globale Einsatz der Atomenergie.

In der Industrie braucht es als Übergangstechnologie Wasserstoff – sind wir da auf einem guten Weg?

Wir sagen den Betrieben, sie sollen auf Wasserstoff umsteigen und das wollen die auch, aber wir haben keine Ahnung, wo wir den Wasserstoff herbekommen werden und was es kostet. Das macht Investitionen in neue Energieformen und in die Zukunft schwierig. Wenn man sagt, wir müssen aus dem Gas aussteigen, braucht es einen realistischen Plan auch für Wasserstoff. Wenn es keinen konkreten Plan gibt, investieren die Unternehmen nicht und es bleibt eine Träumerei, um weitreichend auf Wasserstoff im nächsten Jahrzehnt umzusteigen.

Zur Person

Johannes Benigni ist Gründer von JBC Vienna und Mitbegründer von ComFin Software, JBC Energy und PVM Data Services. Nach einem Studium an der Wirtschaftsuniversität Wien begann er seine Karriere im Energiebereich, wo er sich ursprünglich mit dem Rohstoffhandel und der Vermittlung von Öl, Erdgas und Strom beschäftigte. Anschließend spezialisierte er sich auf Research- und Beratungsdienstleistungen für große Energieunternehmen im Upstream-, Mid- und Downstream-Geschäft.