IV-Generalsekretär Christoph Neumayer erklärt, warum er derzeit noch keinen Aufschwung sieht und wie es um die Industrie bestellt ist. „Im Wesentlichen müssen wir uns selbst am Schopf aus dem Sumpf ziehen und dazu gehört auch, neue Märkte zu bearbeiten, idealerweise begleitet von Handelsabkommen“, sagt er im Interview. Europa müsse seine Hausaufgaben machen und in Beziehung zu den USA wieder Augenhöhe erlangen. Für Österreich wünscht er sich, dass die nahende Industriestrategie auch Maßnahmen bringt, „die über das Regierungsprogramm hinausgehen“. Dann könne diese Strategie sinnvoll und sogar überraschend sein. Zudem brauche es eine Antwort auf den deutschen Industriestrompreis, um nicht eine weitere Abwanderung von Produktion zu riskieren.
Im ersten Halbjahr sah es nach einer Erholung in der Industrie aus – in den Monaten danach hat sich die Stimmung wieder eingetrübt. Rechnet die Industrie in Österreich mit einem weiteren Rezessionsjahr?
Christoph Neumayer: Die Industrie erlebt derzeit einen Marsch durchs Tal. Wir alle hätten uns gewünscht, dass die Industriekonjunktur anzieht und wir den Beginn einer Erholung sehen. Von einem Aufschwung ist aber keine Rede. Wir sehen aber anhand unserer Konjunkturumfrage, dass wir den Boden erreicht haben und uns dort halten. Es ist eine Mischung aus Stagnation und Inflation, also eine Stagflation. Es gibt erste Anzeichen, dass sich das ändert, wir sehen in unseren Daten aber noch keine Erholung.
In Deutschland steht die Industrie noch schlechter da. Dort wird für die Industrie mit einem 4. Rezessionsjahr gerechnet. Warum ist die Lage für die Industrie in Österreich zumindest ein wenig besser, oder täuscht das?
Im Drei-Jahres-Vergleich zeigt sich, dass die Industrie in Österreich stärker unter Druck geraten ist als in Deutschland. Die Industriequote ist hierzulande um rund ein Prozentpunkt gesunken, in Deutschland um etwa 0,8 Prozentpunkte, zudem hat sich Österreich auf der Kostenseite die letzten drei bis vier Jahre schlechter entwickelt. Für einen wirklichen Aufschwung brauchen wir aber auch den Export. Alle großen Aufschwünge der Zweiten Republik sind exportgetrieben gewesen und da hat Deutschland immer eine entscheidende Rolle gespielt. Gleichzeitig werden Unterschiede in der Industriestruktur sichtbar: Deutschland weist einen höheren Anteil energieintensiver Grundstoffindustrien auf und ist damit stärker von Energiepreisen und globalen Abhängigkeiten betroffen. Zugleich expandiert die Rüstungsindustrie und der Automobilsektor scheint sich erfangen zu haben. Zudem versucht Deutschland auch mit dem Industriestrompreis gegenzusteuern und die Unternehmen zu entlasten.
Die Industrie ist in Österreich stärker unter Druck geraten als in Deutschland.
Christoph Neumayer
Die Strukturunterschiede liegen in der Branchenzusammensetzung?
Definitiv. Wir hatten nun drei Rezessionsjahre, wenn man die gesamte Produktionswirtschaft Österreichs betrachtet. Aber es gab auch immer Teilbereiche, die besser performt haben. Das betrifft beispielsweise Energieübertragungssysteme, teilweise die Pharmaindustrie und einige Nischen.
Wenn Deutschland diesen Exportimpuls nicht mehr setzen kann und die USA hohe Importzölle einheben, woher könnten dann die notwendigen Impulse für Österreich kommen?
Wenn wir Erholung und Aufschwung wollen, braucht es zwei Dinge. Einerseits müssen wir unsere Hausaufgaben machen – unser Konjunkturproblem ist in Wahrheit ein Strukturproblem. 56 Prozent der Wertschöpfung sind Staatsausgaben. Wir müssen unsere Strukturen modernisieren und effizienter gestalten, damit sich der Staat wieder auf ein gesundes Maß zurückziehen kann. Wir müssen den Privatsektor wieder entfesseln von Bürokratie und Energiekosten. Nur dann wird es gelingen, wieder Wachstum zu generieren. Die zweite Seite der Medaille ist dann, dass von extern kaum Wachstumsimpulse kommen. Die könnten über neue Handelsabkommen kommen, deshalb ist auch die Partnerschaft mit Lateinamerika so wichtig – es ist völlig unverständlich, dass man diese Chance nicht schon längst nutzt. Impulse können aber auch aus Bereichen kommen wie der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie, wo in ganz Europa die Ausgaben hochgefahren werden. Wenn wir es klug machen, können auch wir davon profitieren. Im Wesentlichen müssen wir uns selbst am Schopf aus dem Sumpf ziehen und dazu gehört auch, neue Märkte zu bearbeiten, idealerweise begleitet von Handelsabkommen, die Rechtssicherheit und weniger Kosten etwa durch Zollreduktion bringen.
Was braucht es, damit das neutrale Österreich am Aufschwung der Verteidigungsindustrie teilhaben kann?
Europa hat sehr schmerzhaft gelernt, dass es enormen Aufholbedarf im Bereich der Sicherheit gibt. In vielen Bereichen, auch was das österreichische Bundesheer betrifft, geht es ja gar nicht um Aufrüstung, sondern um Ausrüstung. Österreich ist ein neutrales Land. Wir haben ein strenges Kriegsmaterialgesetz und eine sehr strenge Exportgesetzgebung. Das ist grundsätzlich auch in Ordnung und nachvollziehbar, muss aber im Außenwirtschaftsgesetz vereinheitlicht werden – mit klaren Fristen etc. Wo wir uns ein Beispiel an anderen Neutralen nehmen können, ist beim Export von Sicherheitsmaterial, insbesondere bei Dual-Use-Gütern, die man sowohl zivil als auch militärisch verwenden kann. Das neutral gewesene Schweden hat da viel Erfahrung und Bewilligungen transparent gemacht. Das war ein sehr pragmatischer Zugang, der Österreich auch gut anstehen würde. Es braucht praxisnahe Leitlinien, ohne den Kern unserer Neutralität infrage zu stellen.
Es war das erste Jahr einer Dreierkoalition in Österreich, die unter verschärften Bedingungen ins Rennen gegangen ist. Wie hat sie sich bisher geschlagen? Welche Handschrift ist insgesamt stärker: die liberale oder die des eingreifenden Staates?
Wenn man auf die Zahlen blickt, sieht man, dass offenbar die Kräfte stärker sind, die die öffentliche Hand stärken und darüber hinaus auch immer wieder zusätzliche staatliche und steuerliche Eingriffe fordern. Anhand internationaler Beispiele sieht man, dass das der vollkommen falsche Weg ist, der unseren Wohlstand zerstört. Gleichzeitig wird dadurch eine kraftvolle Strukturpolitik noch schwieriger. Das merkt man auch. Die Bundesregierung hat grundsätzlich verstanden, dass wir in einer schwierigen Situation sind. Aber es gibt in der Dreierkonstellation eben auch sehr stark beharrende Kräfte, die die Situation in ihrer gesamten Tragweite nicht wahrhaben wollen. Man merkt die ideologische Prägung bei vielen Ergebnissen.
Wenn man auf die Zahlen blickt, sieht man, dass offenbar die Kräfte stärker sind, die die öffentliche Hand stärken.
Christoph Neumayer
Ein Beispiel?
Ein schönes Beispiel ist das Entbürokratisierungspaket. Es sind dort viele gute Maßnahmen drinnen. Aber von den 400 bis 500 Maßnahmen, die eingeliefert wurden, sind 113 übrig geblieben. Das ist der kleinste gemeinsame Nenner einer Dreierkoalition. Dass das in einer Situation mit Rezession und massivem Druck auf uns als Gesellschaft nicht reichen kann, liegt auf der Hand. Es kann also nur ein erster Schritt sein. Große Teile der Bundesregierung haben die Probleme richtig erkannt, aber in der Umsetzung gibt es noch sehr viel Potenzial. Da würde man sich bei Teilen der Regierung mehr Mut wünschen, mehr Konsequenz – und auch weniger Ideologie und Utopie.
Anfang des Jahres war die IV überrascht, dass die Regierung so lange braucht, um eine Industriestrategie zu formulieren. Sie ist dann mit am Verhandlungstisch gesessen. Hat es sich ausgezahlt, daraus einen so langen Prozess zu machen?
Natürlich kann sich diese Industriestrategie grosso modo nur im Rahmen des Regierungsprogramms bewegen. Daher sind relativ engere Grenzen gesetzt, auch was Finanzierungsmöglichkeiten betrifft. Was man aber heute schon sagen kann, ist sicherlich, dass es eine gute Analyse des Ist-Zustands ist. Es wird auch herausgestrichen, in welchen Technologien Österreich Stärken hat, die wir weiter stärken wollen.
Dann gibt es aber auch Maßnahmen, die nicht im Regierungsprogramm stehen, die man aber brauchen würde, vor allem auch um Kosten zu senken und Innovationsimpulse zu setzen. Diese Maßnahmen sind noch on hold und müssen von den Spitzen der Regierung ausgehandelt werden. Wenn es hier gelingt, ein paar Maßnahmen zu setzen, die über das Regierungsprogramm hinausgehen, dann kann diese Industriestrategie sinnvoll sein. Sie könnte dann sogar überraschend sein. Das steht aber noch aus und so wird es auch für uns die nächsten Tage noch spannend, wenn diese Themen auf Spitzenebene ausgehandelt werden.
Wenn es hier gelingt, ein paar Maßnahmen zu setzen, die über das Regierungsprogramm hinausgehen, dann kann diese Industriestrategie sinnvoll sein.
Christoph Neumayer
Der Finanzminister betont immer, dass jede Offensivmaßnahme eine konkrete Gegenfinanzierung braucht. Ich nehme an, dass die Industrie mit den Neue-Steuern-Vorschlägen des Finanzministers nicht glücklich ist – was wären denn realistische Gegenvorschläge, um kurzfristig Spielräume zu schaffen?
Es gibt ein paar wenige Möglichkeiten, um wirklich Effizienzen zu heben. Bei einem Thema hat man sich auf erste, wenngleich zaghafte, Schritte geeinigt. In den nächsten zehn Jahren werden zwischen 40 und 50 Prozent der öffentlichen Bediensteten in Pension gehen. Da ergäbe sich sofort die Möglichkeit, einen Teil der Nachbesetzungen einzusparen und gleichzeitig durch Digitalisierung und KI die Effizienz zu heben. Ein weiterer Punkt wäre das Pensionssystem, das langfristig gesichert werden muss, in dem wir weniger ausgeben. Hier geht es um eine Dämpfung des Pfades, wodurch man bereits Spielräume schaffen würde. Und schließlich gibt es ein paar Maßnahmen, die nicht die Welt kosten, die aber wirklich bei der Wirtschaft und den Menschen ankommen und die Stimmung drehen können. Eine Art Superabschreibung für Unternehmen beispielsweise oder die Ausweitung der Strompreiskompensation bis 2030.
Deutschland wird nächstes Jahr einen Industriestrompreis umsetzen. Was bedeutet das für österreichische Unternehmen und halten Sie eine ähnliche Lösung für Österreich für realistisch?
Wir werden darauf eine Antwort finden müssen. Wenn der deutsche Industriestrompreis so kommt wie angekündigt, ist er durchaus kompliziert aufgesetzt – eingegrenzt auf spezifische Branchen und man muss sich verpflichten, ein Drittel in Energieeffizienzmaßnahmen zu stecken. Aber wir werden jedenfalls etwas Ähnliches in Österreich haben müssen, weil sonst schlicht der weitere Abzug von Produktion droht – insbesondere dort, wo deutsche Unternehmen in Österreich produzieren. Unser Appell ist, einen Teil der 500 Millionen Euro, die aus den Staatsbeteiligungen in Energiekosten-Förderungen fließen, in die Finanzierung eines Industriestrompreises zu stecken.
Die Senkung der Elektrizitätsabgabe reicht nicht aus?
Es ist positiv, dass auch das Gewerbe und der industrielle Mittelstand davon profitiert, aber das wird nicht reichen. Da müsste man deutlich mehr zur Verfügung stellen.
Für die exportorientierte Industrie wäre das Mercosur-Abkommen wichtig. Österreich will sich bei der Abstimmung aber enthalten.
Wenn man sich enthält, ist das de facto eine Gegenstimme. Österreich ist manchmal ein sehr seltsames Land – in Wahrheit leben wir vom Export und unserer internationalen Vernetzung. Wenn man mit Politikern spricht, bestätigen die unter der Hand, dass wir das Mercosur-Abkommen brauchen. Trotzdem lässt man sich dann von Partikularinteressen treiben – in diesem Fall von Rinderlandwirten und ein paar NGOs.
Österreich ist manchmal ein sehr seltsames Land.
Christoph Neumayer
Auch die Entfremdung von EU und USA ist ein Problem für die Exportindustrie. Nach den jüngsten Berichten hat man den Eindruck, dass die Beziehung sogar irreparabel zerrüttet ist. Ist das das Ende der transatlantischen Partnerschaft?
Ich glaube nicht, dass es das Ende ist. Aber es ist wie ein Kater nach einer Zeit des gegenseitigen Respekts und der Verlässlichkeit. Diese Verlässlichkeit ist längst vorbei. Viele Politiker und Menschen tun sich schwer damit, das zu akzeptieren. Das ist auch zutiefst menschlich. Man wünscht sich die Zeiten wieder herbei, wie sie einmal gewesen sind. So wie es aussieht, wird das nie wieder der Fall sein. Die Partnerschaft ist massiv abgekühlt und Europa steht vor der Aufgabe, in dieser Partnerschaft wieder Augenhöhe zu erlangen. Europa ist vor allem sicherheitspolitisch zu schwach aufgestellt. Europa wird in dieser neuen Welt nicht ernst genommen. Wir werden uns sehr am Riemen reißen müssen, wenn wir unser europäisches Lebensmodell, auf das wir stolz sind, verteidigen wollen. Nicht alles, was Donald Trump sagt, ist falsch. Das wollen wir nicht wahrhaben, aber wir müssen unsere Hausaufgaben machen. Wir hätten jahrelang Zeit gehabt, im Zusammenhang mit dem russischen Angriff auf die Ukraine eine stärkere Verteidigungsindustrie aufzubauen.
Europa wird in dieser neuen Welt nicht ernst genommen.
Christoph Neumayer
Was für eine Vision kann man für Europa zeichnen, die nicht dystopisch geprägt ist?
Europa ist nach wie vor ein genialer Ort, um zu leben. Europa ist auch ein genialer Ort, um zu forschen und Innovationen auf den Weg zu bringen. Das Potenzial – sprich Produktion und Dienstleistungen – muss aber zur Entfaltung gebracht werden und es braucht mehr Ernsthaftigkeit, damit das gelingt. Wir können die Realitäten nicht ignorieren und wir müssen uns auf die Stärken besinnen, die wir noch haben.