Christian Stockers 100 Tage

2. Juni 2025Lesezeit: 2 Min.
Kommentar von Rainer Nowak

Rainer Nowak ist österreichischer Journalist und Ressortleiter für Wirtschaft und Politik bei der „Kronen Zeitung“. Zuvor war Nowak Chefredakteur, Herausgeber und Geschäftsführer der Tageszeitung „Die Presse“.


Die 100 Tage, die Medien einst neuangetretenen Politikern als Schonfrist schenkten und bei Patzern, Fehlern oder anderen Peinlichkeiten wegsahen, sind ungefähr so state of the art wie Videorecorder, Telefonzellen oder Grüne in Regierungen. Braucht kein Mensch mehr.

Nichtsdestotrotz legt die milde Beurteilung des Kabinetts Stocker 1 den Verdacht nahe, es könnte sie wieder geben, die 100-Tage-Schonfrist. Aber das stimmt natürlich nicht wie Audist Sepp Schellhorn mittlerweile weiß. Die aktuelle Regierung agierte bisher nur unauffällig und dabei erstaunlich fehlerfrei. Das Sparpaket hatte den großen Vorteil, dass es eigentlich von FPÖ und ÖVP in deren Regierungsverhandlungen geschnürt und dann vom SPÖ-Finanzminister mit ideologischer Todesverachtung auf den Weg gebracht wurde. Laut Umfragen ist die Begeisterung in der Bevölkerung über die Bitterschokolade-Zuckerlkoalition zwar überschaubar, aber nicht wenige professionelle Beobachter erfreuen sich nicht daran, wer regiert. Sondern wer nicht regiert, also Herbert Kickl. Der macht das, was er am besten kann: warten.

Der Halbwertszeit der österreichischen Innenpolitik folgend, dürfte es mit der Harmonie in der Regierung und in den drei Parteien spätestens im Herbst wieder vorbei sein. Denn spätestens dann kommen Defizitverfahren plus weitere (dann aber echte) Sparmaßnahmen. Die SPÖ hat den Kampf um neue Vermögensteuern nur ausgesetzt, nicht eingestellt. Vor allem droht sich dann langsam, aber sicher ein echtes Mondfenster zu schließen: Jetzt wäre eine große Bereitschaft in der Bevölkerung, aber auch in so manchen bisher starren Institutionen, sich zu bewegen, Verzicht zu üben und die Rahmenbedingungen für Wirtschaft, Industrie und Leistungsträger zu verbessern.

Der Begriff „Reform“ klingt hohl, aber Deutschland und Angela Merkel hätten ohne jene Gerhard Schröders keine so guten Jahre gehabt. In Österreich gilt das für das Werk Wolfgang Schüssels. Übrigens: Christian Stocker muss nicht noch einmal gewählt werden, sondern kann in viereinhalb Jahren in den verdienten Ruhestand gehen. Bis dahin entscheidet er, ob er wie Schüssel ein Reformer wird. Oder wie Sebastian Kurz ein Reform-Zauderer. Oder anders: Ob er ein Kapitel im kleinen österreichischen Zeitgeschichtsbuch bekommt, oder nur eine freundliche Fußnote wie bei Alexander Schallenberg bleibt.

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