ZeitGeschichten von Gerhard Jelinek

Der Vorläufer der WKÖ hat seine Wurzeln in der Revolution

17. November 2025Lesezeit: 5 Min.
Kommentar von Gerhard Jelinek

Gerhard Jelinek ist ein österreichischer Journalist, Fernsehmoderator und Buchautor. Der Jurist und erfahrene Journalist gestaltete rund 70 politische und zeitgeschichtliche Dokumentationen und Porträts.

Da gehen Wiener einmal auf die Barrikaden, machen Revolution, vertreiben den Regierungschef, erhängen einen Minister und was kommt dabei raus: die Handelskammer. 

Tatsächlich ist die Handelskammer als Vorläuferorganisation der Wirtschaftskammer ein Kind der sogenannten „bürgerlichen Revolution“ des Jahres 1848. Das erste Handelskammergesetz wurde am 15. Dezember 1848 erlassen. Die amtliche „Wiener Zeitung“ druckte den vollständigen Gesetzestext: „Der Ministerrath hat sich dem dringenden Bedürfnisse in Wien und mehreren Provinzialstädten, baldigst Handelskammern ins Leben zu rufen, über Antrag des Herrn Handels-Ministers veranlaßt gefunden, die nachstehenden Bestimmungen in Wirksamkeit treten zu lassen.“ 

Es war also ein „dringendes Bedürfnis“ der damaligen liberalen Revolutionäre für die „Gewerbe- und Handelstätigkeit“ Selbstvertretungskörper zu schaffen, die auf demokratische Weise zu wählen wären. Und tatsächlich stellte die gnädigst erteilte Erlaubnis, sich zu organisieren einen großen demokratischen Fortschritt in einem aristokratisch-autoritären System dar. Die diversen „Gewerbevereine“ vor 1848 hatten keine gesetzliche Absicherung im Metternich’schen Verwaltungsstaat. 

Die verbrieften Aufgaben der damals neuen Handelskammern unterscheiden sich kaum von den Kompetenzen der heutigen Wirtschaftskammern. Zu ihrem Wirkungskreise gehören insbesondere: „Vorschläge zur Verbesserung der Handels- und Gewerbsgesetzgebung. Anträge über die Mittel zur Beförderung und Belebung der Gewerbe und des Handels, und zur Beseitigung der Ursachen, welche die Fortschritte in demselben hemmen.“ Das Thema Entbürokratisierung war also auch schon vor 177 Jahren einigermaßen aktuell: Beseitigung der Ursachen, welche Fortschritte hemmen – eleganter wird es heute auch nicht ausgedrückt. Und zwei Jahrzehnte später wurde die Macht der Handelskammern noch ausgebaut. Sie durften Abgeordnete in den Reichstag entsenden.

Mittlerweile gelten die 13 Kammern, die es heute auf Bundesebene gibt, aber eher als Teil des Problems, als – wie anno dazumal erhofft – Teil der Lösung. Praktisch jeder Österreicher (auch die weibliche Mehrheit der Bevölkerung) ist (Pflicht-)Mitglied einer oder gar mehrerer Kammern. Seien es die fast vier Millionen Arbeitnehmer in den neun Arbeiterkammern, oder die rund 650.000 Mitglieder der Landwirtschaftskammer, die damit deutlich mehr Mitglieder aufweist, als es Bauern in diesem Land gibt. Und auch die Landarbeiter sind keineswegs in der „roten“ Arbeiterkammer, sondern in gleich neun „schwarzen“ Landarbeiterkammern per Gesetz organisiert. 

Im Laufe der Jahrzehnte fühlten eher mehr als weniger Berufsgruppen das Bedürfnis, sich in eigenen Kammern wohnlich einzurichten. Waren die Zahnärzte ursprünglich in der Ärztekammer organisiert, haben sie jetzt auch eine eigene Kammer mit entsprechenden Funktionären. Tierärzte und Apotheker wollten dem natürlich nicht nachstehen – und selbst die paar Dutzend Patentanwälte regeln ihre Angelegenheiten gesetzlich abgesichert in einer öffentlich-rechtlichen Institution.

Im Laufe der Jahrzehnte fühlten eher mehr als weniger Berufsgruppen das Bedürfnis, sich in eigenen Kammern wohnlich einzurichten.

Gerhard Jelinek

Die in der Öffentlichkeit lauten Rufe – vor allem von den Freiheitlichen, die in keiner dieser Institutionen namhaft vertreten sind – nach Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft wurden schon Mitte der 1990er-Jahre erhört. Die Gagen-Affäre um den steirischen Arbeiterkammer-Boss Alois Rechberger und seinen Kammeramtsdirektor Kurt Zacharias hatte die Sozialdemokratie und den Kammerstaat erschüttert. Auch damals ging es um üppige Gehälter und Privilegien, die der FPÖ-Oppositionsführer Jörg Haider mit seinen berühmten „Taferln“ in der ORF-„ZiB“ angeprangert hat.

Die seinerzeit noch tatsächlich „große“ Koalition unter Bundeskanzler Franz Vranitzky und ÖVP-Chef Wolfgang Schüssel setzte auf eine Vorwärtsstrategie und ließ über die Pflichtmitgliedschaft abstimmen. Damals votierten mehr als 90 Prozent der Arbeitnehmer für eine Beibehaltung der AK-Pflichtmitgliedschaft, obwohl jeder Arbeitnehmer dafür 0,5 Prozent seines Brutto-Einkommens abliefern muss. Auch die Mitglieder der Wirtschaftskammer und aller anderen berufsständischen Interessenvertretungen stimmten mit großer Mehrheit jenseits von 80 Prozent für die gesetzlich verordnete Pflichtmitgliedschaft. Mit dieser Abstimmungsserie war das von Jörg Haider aufs Tapet gebrachte leidige Thema für SPÖ und ÖVP vorerst einmal vom Tisch, die Macht der Sozialpartner legitimiert und der Einfluss von SPÖ und ÖVP zementiert. Da mochte Jörg Haider bei Wahlen erfolgreich sein, die tiefen Wurzeln der wahren politischen Macht konnte er nicht ausreißen. Sie wuchsen noch tiefer ins realpolitische Biotop. 2007 verankerte die Regierung Gusenbauer/Molterer die Sozialpartner-Organisationen als „Selbstverwaltungskörper“ gar in der Bundesverfassung und legalisierte damit den faktischen Zustand. Die „organisatorische Mitgliedschaft“ wurde als „Strukturelement“ erläutert und damit festgezurrt. Allfällige Abschaffungsbegehren sind daher höchst unrealistisch, würde es doch einer Zweidrittel-Mehrheit im Nationalrat bedürfen. 

Da mochte Jörg Haider bei Wahlen erfolgreich sein, die tiefen Wurzeln der wahren politischen Macht konnte er nicht ausreißen.

Gerhard Jelinek

Der Bauindustrielle Hans-Peter Haselsteiner versuchte das zementierte System daher auch nicht übers Parlament zu kippen, sondern ging den Umweg über Brüssel mit einer Beschwerde bei der EU-Kommission gegen die Pflichtmitgliedschaft der Wirtschaftskammer. Diese sei mit dem Wettbewerbsrecht und der Niederlassungsfreiheit der Europäischen Union unvereinbar. Er scheiterte damit.

Vielleicht hätte es Haselsteiner über die Mitgliedsbeiträge und einen Rückgriff auf die Geschichte versuchen sollen. Denn die Finanzierung der Handelskammern ab 1848 wurde nicht den (Pflicht-)Mitgliedern aufgehalst, sondern der öffentlichen Hand. Jeweils ein Drittel der Kosten für die nach der Revolution neu geschaffenen Handelskammern mussten Gemeinden, Länder und der Gesamtstaat bezahlen. Die Gemeinden wurden außerdem verpflichtet, entsprechende Räumlichkeiten bereitzustellen. Mit einer derartigen Lösung könnte sich die WKÖ heute wohl abfinden. Ein Entfall der Kammerumlage 2 wäre so leicht zu verschmerzen. Und die Rücklagen blieben immer noch.

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