Die Neutralität – Knien vor einem Mythos

24. Oktober 2025Lesezeit: 4 Min.
Alexander Purger Illustration
Kommentar von Alexander Purger

Alexander Purger ist Redakteur der Salzburger Nachrichten und schreibt die satirische Kolumne „Purgertorium“. Er ist Autor mehrerer Bücher, darunter der Kanzlerbiografie „Wolfgang Schüssel – Offengelegt“.

70 Jahre ist es her, dass Österreich das Bundesverfassungsgesetz über seine immerwährende Neutralität beschlossen hat. Und 70 Jahre, das ist in der Politik keine halbe, sondern eher schon eine ganze Ewigkeit. Wie lange der 26. Oktober 1955 her ist, zeigt sich etwa daran, dass ÖVP und SPÖ damals zusammen mehr als 80 Prozent der Stimmen hatten. Und heute… Na, lassen wir das.

Auch sonst hat sich viel geändert: SPÖ und FPÖ, heute glühende Anhänger der Neutralität, standen ihr damals ablehnend (SPÖ) bis sehr ablehnend (FPÖ) gegenüber. Wie damals übrigens auch die Österreicher. Laut Ludwig Steiner, der als Sekretär von Bundeskanzler Julius Raab die Staatsvertragsverhandlungen miterlebte, wurde eine Volksabstimmung über die Einführung der Neutralität 1955 aus dem Grund unterlassen, da sie mit einem glatten Nein geendet hätte.

Heute ist es umgekehrt. Heute würde eine Volksabstimmung über die Abschaffung der Neutralität mit einem glatten Nein ausgehen, denn mittlerweile ist sie den Österreichern so ans Herz gewachsen, dass selbst die ÖVP, die immer wieder gerne an dem Mythos gekratzt hatte, kapituliert hat und den Mythos mit-anbetet. Alles andere wäre ja auch politischer Selbstmord.

Und außerdem: Es ist ja im Grunde egal, ob die Neutralität weiter in der Verfassung steht oder nicht. Denn seit durch die Verfassungsänderung 1997 auch die Verpflichtung zur europäischen Solidarität drinnen steht, kann Österreich machen, was es will: Unter Berufung auf die europäische Solidarität könnte es sogar Waffen an die Ukraine liefern und das Bundesheer in EU-Kampfeinsätze schicken. Unter Berufung auf die Neutralität kann es das aber genauso gut ablehnen und sich aus der europäischen Solidarität ausklinken. Der Völkerrechtler Ralph Janik bezeichnete die Neutralität diesbezüglich unlängst als das letzte Ass im Ärmel der österreichischen Diplomatie.

Tatsächlich befindet sich Österreich mit seiner zweideutigen Neutralsolidarität bzw. Solidarneutralität in einer komfortablen Situation: Es kann im Ernstfall Solidarität einfordern, ohne sie selbst üben zu müssen. Folgerichtig ergab eine Umfrage der Universität Innsbruck im Vorjahr, dass die Österreicher zu 72 Prozent fordern, dass uns die anderen EU-Länder verteidigen müssen, wenn wir angegriffen werden, während sie nur zu 14 Prozent dafür sind, dass Österreich im Ernstfall den anderen EU-Staaten beispringt. Das verstehen die Österreicher also unter Neutralität: eine sicherheitspolitische Einbahnstraße. Absurd? Ja, aber durch die Verfassung gedeckt.

Das verstehen die Österreicher also unter Neutralität: eine sicherheitspolitische Einbahnstraße.

Alexander Purger

Alles paletti also? Na ja, nicht ganz. Erstens ist die Geschichte voll von Neutralen, die sich in Sicherheit wiegten, im Ernstfall aber von den Großen überrannt wurden, so schnell konnten sie gar nicht schauen. Und zweitens macht sich Österreich mit seiner Trittbrettfahrerei international reichlich unbeliebt, was uns außenpolitisch immer wieder auf den Kopf fällt. Den österreichischen Regierungen war und ist das bewusst, weshalb sie trotz allem Neutralitätsgerede doch immer die wesentlichste Solidaritätsleistung erbrachten und erbringen, die Europa von uns verlangt, nämlich die Gewährung von Durchmarsch-, Waffentransit- und Überflugsgenehmigungen. Aber nur für Übungszwecke, wie für das heimische Publikum immer dazu gesagt wird. Was nicht dazu gesagt wird, ist, wie Österreich das denn kontrollieren will …

Strenger ist Österreich – und das ist aktuell der größte Nachteil der Neutralität – beim Waffenexport. Aufgrund strenger Exportgesetze kann Österreich Waffen überspitzt gesagt nur in den Vatikan liefern. Das ist nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sicherheitspolitisch ein schwerer Nachteil: Denn um für den Ernstfall gerüstet zu sein, braucht ein Staat Autarkie, also auch eine eigene Rüstungsindustrie. Eine Rüstungsindustrie kann aber nur bestehen, wenn sie regelmäßig produzieren kann, und regelmäßig produzieren kann sie nur, wenn sie auch ins Ausland liefern darf. Dem steht aber in vielen Fällen die Neutralität entgegen. Was dazu führt, dass Österreich nicht einmal die Munition für das Standardgewehr des Bundesheeres selbst produziert.

Aufgrund strenger Exportgesetze kann Österreich Waffen überspitzt gesagt nur in den Vatikan liefern.

Alexander Purger

Aber siehe oben: Nach der überwiegenden Meinung der Österreicher brauchen wir ohnehin keine Munition. Wir sind ja neutral.

Meistgelesene Artikel