Historische „Defizitverfahren“: Ein Niederländer als „Vizekaiser“ in Österreich

Gerhard Jelinek ist ein österreichischer Journalist, Fernsehmoderator und Buchautor. Der Jurist und erfahrene Journalist gestaltete rund 70 politische und zeitgeschichtliche Dokumentationen und Porträts.
Nichts Neues unter der Sonne: Österreich steht seit ein paar Tagen unter finanzpolitischer Vormundschaft einer internationalen Gemeinschaft. Das erste Mal? Nein.
Vergangene Woche haben die EU-Finanzminister in Brüssel offiziell die Eröffnung eines EU-Defizitverfahrens gegen Österreich beschlossen. Die EU-Kommission hat das empfohlen. Es ist keine Premiere, dass ausländische Institutionen Österreich das Sparen beibringen sollen. Schon in der so fernen Ersten Republik hat der „Völkerbund“, die Vorläuferorganisation der heutigen UNO, zwei Mal „Kommissare“ nach Wien geschickt, die der österreichischen Regierung auf die Finger schauen sollten und grundlegende und schmerzhafte Reformen erzwangen.
Nach dem verlorenen Weltkrieg, dem Zerfall der k.u.k. Monarchie versinkt das kleine Rest-Österreich ins finanzielle Chaos. „Kredit oder Untergang“ titelte die „Neue Freie Presse“.
Vor der großen Depression, durchleidet die junge Republik eine durch die Kriegskosten bedingte Finanzkrise. Österreich, kaum als Rumpfstaat aus dem Zerfall der Habsburger-Monarchie auf der europäischen Landkarte eingezeichnet, steht vor dem Abgrund.
Der christlichsoziale Bundeskanzler Prälat Ignaz Seipel versucht beim Völkerbund einen langfristigen Kredit zum Wiederaufbau zu bekommen. 1922 gelingt ihm das mit verzweifelten Appellen und persönlichen Auftritten vor dem Völkerbund in Genf. Nach langen Verhandlungen garantieren Frankreich, Italien, Großbritannien und die Tschechoslowakei im Oktober 1922 in den Genfer Protokollen eine Anleihe über 650 Millionen Goldkronen und mit 20 Jahren Laufzeit. Der Großteil der Anleihe wird in London und in New York gezeichnet. Entgegen allen düsteren Prognosen vertrauen die internationalen Anleger der Alpenrepublik. Die Anleihe, die mit bis zu zehn Prozent verzinst wird, ist mehrfach überzeichnet. Und sie ist für die Gläubiger praktisch risikolos. Denn Österreich muss harte Bedingungen akzeptieren. So werden alle Zolleinnahmen und die Einnahmen aus der Tabakregie verpfändet. Die Regierung verpflichtet sich, hunderttausend Beamte zu entlassen und baut tatsächlich 84.000 Beamte ab, oder tut jedenfalls so. In österreichischer Manier werden Tausende öffentlich Bedienstete in Frühpension geschickt und die Zahlen „schöngerechnet“, indem die Post- und Bahnbediensteten „ausgegliedert“ werden. Unterm Strich baut die Republik in den kommenden Jahren aber doch 25.000 Beamte ab. Die eigentliche Sanierung des Staatshaushaltes erfolgt – wie so oft – durch neue Steuern. Erstmals wird eine allgemeine Warenumsatzsteuer in der Höhe von zwei Prozent eingeführt. In der Monarchie gab es eine „Umsatzsteuer“ nur für Bier oder Branntwein.
Zur Kontrolle und Überwachung sendet der „Völkerbund“ den früheren Rotterdamer Bürgermeister Alfred Rudolph Zimmermann als Finanzkommissar nach Wien. Er residiert im Palais Augarten und überwacht sämtliche Ausgaben. Er, nicht das Parlament, hat das letzte Wort bei Gesetzesbeschlüssen. Die „austromarxistische“ Opposition im Parlament attackiert den Niederländer als „Vizekaiser“. Der wiederum kritisiert die lockere Ausgabenpolitik der sozialdemokratischen Wiener Stadtverwaltung. Der Niederländer Zimmermann macht sich nicht gerade beliebt. Der liberale Wirtschaftswissenschaftler Ludwig von Mises, einer der Gründer der österreichischen Schule der Nationalökonomie, charakterisiert den früheren Rotterdamer Bürgermeister als „unwissend, arrogant und taktlos“. Aber Bundeskanzler Seipel braucht den Völkerbund- Kommissar und die Vormundschaft, um dringend notwendige Reformen gegen den Widerstand der in Österreich seit je eher allmächtigen Interessengruppen und gegen die Ablehnung der Bundesländer durchdrücken zu können. Ludwig von Mises: „Die Regierung musste die Möglichkeit haben, das Odium, das dem Veto gegen Ausgabensteigerungen anhatte, auf einen Ausländer abwälzen können.“
Vielleicht brauchen wir das heute auch: Brüssel ist schuld.
Otto Bauer, der deutschnationale Parteivorsitzende der Sozialdemokraten, analysiert das Geschehen im Rückspiegel: „Das Gleichgewicht der Klassenkräfte war in dem Moment aufgehoben, als sich die Staatsgewalt unter den Schutz des Auslands flüchtete.“
Tatsächlich wird die Anleihe als Überbrückungshilfe nur zum Teil ausgeschöpft. Früher als erwartet gelingt es, das Budgetdefizit abzubauen. Die Medizin ist bitter, sie verschärft die sozialen Spannungen – doch zumindest die fiebrige Hyperinflation findet ein Ende. Die Arbeitslosigkeit allerdings steigt auf bis zu zwölf Prozent, schon vor der Weltwirtschaftskrise.
So weit sind wir heute (noch) nicht. Die mit den jüngsten Budgetbeschlüssen eingeleitet Maßnahmen sind ja im historischen Vergleich geradezu lächerlich.
„Die mit den jüngsten Budgetbeschlüssen eingeleitet Maßnahmen sind ja im historischen Vergleich geradezu lächerlich.“
Gerhard Jelinek
Noch im März hat die neue österreichische Regierung versucht, ein „Defizit-Verfahren“ abzuwenden: „Wishful thinking“. Immerhin haben die europäischen Finanzminister den österreichische Fiskalstrukturplan abgenickt. Er verspricht Maßnahmen zur Senkung des weit über die drei Prozent des Maastricht-Zieles hinausgehenden Haushaltsdefizits. Nicht gleich, nicht rasch, bis 2028 und dann auch kein ausgeglichenes Budget sondern „nur“ knapp unter drei Prozent Neuverschuldung. Ambitioniert ist das nicht. Mutig auch nicht.
Ab jetzt steht Österreich also unter finanzieller Kuratel der EU in Brüssel. Vom Mitglied der „frugalen Vier“ – also sparsamen – unter Kanzler Sebastian Kurz (anno 2020), ist Österreich binnen vier Jahren in die Unterliga der Budgetsünder abgestiegen. Für den ÖGB ist das „kein Grund zur Panik“. Schon einmal sei Österreich von der EU quasi unter finanzpolitisches Kuratel gestellt worden (von 2009 bis 2013). Damals regierte eine Koalition unter SPÖ-Führung. Und wie der Gewerkschaftsbund so treffend analysiert: „In den Jahren danach ging es wirtschaftlich wieder bergauf.“
Also: kein Grund zur Panik, aber ein bisschen peinlich ist es für die Republik und ihre Finanzpolitik schon. Österreich gehört jetzt zu den „verschwenderischen Acht“. Schon 2024 hat die Kommission gegen Frankreich, Italien, Belgien, Malta, Polen, die Slowakei und Ungarn Defizit-Verfahren eingeleitet.
Der Völkerbund-Kommissar blieb anno dazumal vier Jahre in Wien und kontrollierte die Budgetpolitik der diversen Regierungen. Österreich zahlte pünktlich (hohe) Zinsen und Kreditraten zurück.
Nach und durch die 1929 ausgelöste Weltwirtschaftskrise verschlechterte sich die Lage neuerlich massiv. Die Pleite der Bodenkreditbank und die damit verbundene de facto Pleite der Creditanstalt, die damals mehrheitlich der Familie Rothschild gehörte, brachte das Land neuerlich an den Abgrund. Wieder musste der Völkerbund einschreiten. Österreich erhielt mit der sogenannten „Lausanner Anleihe“ eine Unterstützung von über 300 Millionen Schilling (wäre heute 1,5 Milliarden Euro – aber in Relation zum damaligen BIP viel mehr). Garantiemächte waren neben Großbritannien und Frankreich Italien und Belgien. Österreich musste auf die geplante Zollunion mit Deutschland zu verzichten, was Deutschnationale, wie Sozialdemokraten gleichermaßen empörte. Das Parlament stimmte der Anleihe nur mit einer Stimme Mehrheit zu. Die Regierung von Engelbert Dollfuß konnte sich knapp behaupten.
Und wieder wurde mit dem Niederländer Meinoud Rost van Tonningen ein Völkerbund-Aufpasser nach Wien geschickt. Van Tonningen unterstützte den Christlichsozialen Dollfuß und bestärkte ihn in dessen Ablehnung einer parlamentarischen Demokratie. Die Ausschaltung des Nationalrats im März 1933 begrüßte der Völkerbund-Kommissar. Rost van Tonningen blieb bis 1936 in Wien. Österreich zahlte auch diese Anleihe zurück, bis die Nationalsozialisten nach der gewaltsamen Annexion Österreichs 1938 die Zahlungen einstellten. Nach 1945 musste die Republik ihre Schulden aus den zwei Anleihen bis 1980 brav tilgen.
Einen Finanzkommissar schickte der Völkerbund nicht mehr.
Das zweite EU-Defizitverfahren kommt ganz ohne in Wien stationierten Kontrollor aus. Für die Regierung bleibt die Annehmlichkeit, ausufernde Finanzierungswünsche diversester Interessengruppen mit Hinweis auf Brüssel (leider, leider) tunlichst ablehnen zu können.
Auch das, nichts Neues unter Sonne.