Industrie- und Wirtschaftskrise? Egal, Hauptsache die Frisur hält

Rainer Nowak ist CEO der Tageszeitung „Die Presse“. Zuvor war er Journalist und Ressortleiter für Wirtschaft und Politik bei der „Kronen Zeitung“ und davor Chefredakteur, Herausgeber und Geschäftsführer der Tageszeitung „Die Presse“.
Die Vergabe von Haltungsnoten gehört zur Lieblingsbeschäftigung vieler Journalisten, eine Leidenschaft, die der Henne-Ei-Gleichung folgend, auch viele Landsleute teilen. Wichtig ist nicht so sehr, was gesagt oder getan wird, sondern wie es gesagt und getan wird. Die Bundesregierung ist ein schönes, oder vielleicht besser: gutes Beispiel dafür. Seit Wochen und Monaten wird das „Wie“ gelobt und – seltener – kritisiert.
Mittels breiter Begutachtung lobten alle die Diskretion der Regierungsverhandlungen und verfolgten die täglichen nichtssagenden Wasserstandsmeldungen dazu. Es folgten die ersten beklatschten Dreier-Auftritte, die Angelobungen in der Alexander-Van-der-Bellen-Zeitschleife und ausschweifende Regierungsprogrammpräsentationen. Danach wurde ein kleines Sparpaket auf blau-schwarzen Spuren geschnürt, das dann breit präsentiert. Sehr breit. Dazwischen wurden die ersten Minister-Aufschläge minütlich kommentiert. Bald ging es dann an die Ersten-100-Tage-Bilanzen und nun zur Minister-Zeugnisverteilung.
Inhaltlich ist neben besagtem Sparpaket diesseits der Raketenwissenschaft noch nicht sehr viel passiert. Es wird ein wenig weniger ausgegeben und gar nicht so wenig mehr eingenommen. Konsolidiert sind bestenfalls die Umfragewerte der drei Regierungsparteien, weiterhin abgeschlagen hinter Teilzeit-Oppositionschef Herbert Kickl. Die Rezession lähmt weiterhin das Land, von einem Aufschwung ist nichts zu spüren. Die 2024/2025-Wirtschaftskrise mit seiner Industrie- und Arbeitsplatzvernichtung wird Österreich negativer prägen als die individuell gefühlt schlimmere Corona-Krise. Die Politik hat versagt, bisher gelingt ihr das wirtschaftliche Comeback nicht.
„Die Politik hat versagt, bisher gelingt ihr das wirtschaftliche Comeback nicht.“
Rainer Nowak
Dazwischen tauchen neue alte Phänomene der Politik-Haltungsnotenvergabe auf. Da wird Finanzminister Markus Marterbauer gefeiert: Zu Recht, da er im Gegensatz zu manchem Vorgänger offenbar die Zahlen kennt. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Leicht absurd wirkt die Begeisterung über seine Ehrlichkeit, zwar weiter für Vermögenssteuern kämpfen zu wollen, was aber angesichts der ablehnenden Haltung von ÖVP und Neos unmöglich sei. Das ist die alte ÖVP-Kulturtechnik: Deren Chefs kündigen seit Jahrzehnten immer große Reformen, Standortmaßnahmen und niedrigere Steuern an. Leider ist das dann wegen der bösen Koalitionspartner nie machbar.
Den Titel Ankündigungsweltmeister kann Wirtschaftsminister Wolfgang Hattmannsdorfer keiner mehr streitig machen. Ob Wirtschaftskrise oder Energiepreisproblematik, alles schon in Pressekonferenzen und Interviews gelöst. Innenminister Gerhard Karner geht es symbolisch an: Der erste straffällig gewordene Syrer wurde abgeschoben. Immerhin. Die Legislaturperiode dauert auch noch rund viereinhalb Jahre. Um Andreas Babler ist es erstaunlich ruhig geworden, vor der Wien-Wahl angekündigte Personaldebatten finden nicht statt. Christian Stocker gefällt das.
Für das Unterhaltungsprogramm der Harmonie-Koalition sorgen die Neos: Ein kleiner Flügelstreit um Messenger-Überwachung und Social-Media-Regeln für Kabinettsmitarbeiter helfen als unfreiwilliges Ablenkungsmanöver zwar dem geplagten Sepp Schellhorn, aber wenn sich das politische Schaf im Wolfspelz, Niki Scherak, schon gegen die mächtige Parteichefin Beate Meinl-Reisinger zu stellen traut, weiß man: Da kommt noch mehr.