Österreichs fatale Neigung zu „ein bisserl“

4. Juli 2025Lesezeit: 4 Min.
Sara Grasel Illustration
Kommentar von Sara Grasel

Sara Grasel ist Chefredakteurin von Selektiv. Sie ist seit fast 20 Jahren Wirtschaftsjournalistin mit Stationen bei „Die Presse“, Trending Topics und brutkasten. Zuletzt war sie Chefredakteurin der Magazine der Industriellenvereinigung.

Gibt es neben Österreich ein zweites Land, in dem es so viele Ausdrücke für „wenig“ gibt? Wir geben gern „ein Äuzerl“ oder „ein Wengerl“ oder gar nur „ein Futzerl“ oder wir kommen auf „einen Hupfer“ vorbei. Nie so richtig, sondern halt immer nur „ein bisserl“. Das ist so tief in der österreichischen Seele verankert, dass es offenbar bis in die politische Umsetzungskraft durchschlägt. Natürlich machen wir eine Pensionsreform, aber ein bisserl reicht. Ein Trumm an Reform ist zu viel, auch wenn es das vielleicht brauchen würde – daran zweifelt wohl kaum ein junger Mensch, den diese Strukturreform später betreffen würde. Bis 70 zu arbeiten wäre zwar ein Eckhaus mehr als jetzt, man kann den Weg aber auch ein Stückerl nach dem anderen gehen. 

Immer nur „ein Wengerl“ ist nämlich ein bisserl teuer. Bei den Pensionen ist das viel diskutiert worden: Der Staat muss für die Pensionen heuer rund 33 Milliarden Euro zuschießen und bis 2029 sollen die Kosten auf 38,3 Milliarden Euro steigen. Die von der Regierung vorgesehenen Änderungen sparen 2029 im Pensionssystem laut Agenda Austria nur 1,9 Mrd. Euro, also eher kein Patzen. Das liegt vor allem daran, dass wir dank einer gestiegenen Lebenserwartung wesentlich länger in Pension sind als noch vor einigen Jahren. In den 70er-Jahren waren Männer durchschnittlich 13,7 Jahre in Pension und Frauen 18,8 Jahre – 2023 waren es für Männer bereits 20,7 Jahre und für Frauen 26 Jahre. Die Idee, länger zu arbeiten, trifft derzeit noch auf wenig Gegenliebe: Laut Statistik Austria hatten 2023 nur 5,7 % der nicht-erwerbstätigen 60-64-Jährigen einen „Arbeitswunsch“. Schlagend würde eine solche Reform aber ohnehin erst in 15 bis 20 Jahren werden. Sollte sich Österreich überhaupt dazu aufraffen können.

Teuer ist auch, dass immer mehr Menschen nur noch „einen Hupfer“ im Büro vorbeischauen oder an manchen Tagen auch gar nicht. Österreich ist eine Teilzeit-Hochburg. Bei Frauen und Männern ist der Anteil der Menschen, die weniger arbeiten, in den letzten Jahren stark gestiegen. Bei Männern auf 13,7 % und bei Frauen vergangenes Jahr sogar erstmals auf mehr als die Hälfte. Die Zahl der Erwerbstätigen steigt in Österreich, getrieben durch Menschen, die Teilzeit arbeiten. Nur 14,8 % der Teilzeit-Erwerbstätigen würden gerne mehr arbeiten. Umgekehrt will jeder fünfte Vollzeit-Berufstätige Stunden reduzieren, ein Jahr davor war es noch jeder Sechste. Vor allem bei Männern ist der Grund dafür eher selten, sich mehr Zeit für Betreuungspflichten frei zu schaufeln.

Der Trend zur Teilzeit hat bei einem Pensionssystem, das auf eine Versicherungsleistung auf Basis der eingezahlten Beträge gestützt ist, Auswirkungen auf die persönliche finanzielle Situation im Alter. Die „ein bisserl weniger arbeiten“-Mentalität macht es aber auch schwieriger, den großzügigen Sozialstaat zu finanzieren. Wer weniger arbeitet, kann natürlich die gleichen Leistungen aus dem Sozialversicherungssystem beziehen – wenn man dadurch weniger verdient, zahlt man aber auch weniger Beiträge in Krankenversicherung, Unfallversicherung, Arbeiterkammerumlage und Wohnbauförderung.

„Die ,ein bisserl weniger arbeiten‘-Mentalität macht es aber auch schwieriger, den großzügigen Sozialstaat zu finanzieren.“

Sara Grasel

Dass sich Unternehmen jetzt auch in Österreich zunehmend für die Potenziale künstlicher Intelligenz interessieren, hat auch damit zu tun: Während der Teilzeit-Trend die (volkswirtschaftliche) Produktivität ausbremst, könnte schlaue Software sie wieder ankurbeln. Ganz nebenbei hilft das natürlich auch, die im internationalen Vergleich ungut gestiegenen Lohnkosten etwas abzufedern. Man könnte natürlich das Modell Vollzeitarbeit wieder populär machen, oder die KI übernimmt halt ein bisserl. Vielleicht können wir ja schon froh sein, dass die Menschen wenigstens arbeiten, egal wie viel – ohne Teilzeit würde die Beschäftigungsquote derzeit eher mager aussehen.

Wenn wir uns alle „ein Äutzerl“ mehr reinhängen würden, wäre Österreich vielleicht wieder vorne mit dabei. Egal ob bei den Pensionen oder der Wirtschaftsleistung.

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