Patriotische Umerziehung: Europas Kapitalfehler

Heike Lehner ist freiberufliche Ökonomin. Ihre Spezialgebiete liegen im Bereich der Geldpolitik und Finanzwirtschaft, wozu sie aktuell ebenso promoviert.
Mittlerweile können es viele nicht mehr hören: Die Österreicher sparen viel, aber lassen es auf Konten und Sparbüchern verrotten. Das ist sicher, aber mager verzinst. Die Zahl der Wertpapieranleger nimmt zwar zu, aber viel zu viel Potenzial bleibt ungenutzt. Dieses Problem ist nicht nur ein österreichisches, sondern auch ein europäisches: Ende 2023 hielten die Europäer rund 11,5 Billionen Euro in Bargeld und Einlagen. Dass wir damit auf Seite der Haushalte Vermögen auf dem Tisch liegen lassen, ist die eine Sache. Die Sparbuchromantik frisst Rendite. Auf der anderen Seite sind da europäische Unternehmen, die Geld gut gebrauchen könnten. Geld, das unter anderem Haushalte durch Veranlagung zur Verfügung stellen könnten. Wir wissen, dass wir mehr Investitionen in Europa brauchen, um Unternehmen zu stärken damit diese endlich bitter notwendige Innovationen hervorbringen können. Diese Innovationen, diese Produktivität, dieses Wirtschaftswachstum und am Ende des Tages diesen Wohlstand: Diesen benötigen wir, um unseren Sozialstaat weiter zu finanzieren.

Eine unendliche Aufnahme an neuen Staatsschulden ist utopisch, irgendwann müssen wir auch etwas für unseren Wohlstand tun. Denn es ist ein Teufelskreis: Der großzügige Sozialstaat ist mit ein Grund, wieso wir uns hierzulande zu wenig mit eigenem Vermögensaufbau und den Konsequenzen für Unternehmen beschäftigen. Er nimmt den Risikodruck vom Einzelnen. Gleichzeitig wäre aber genau das notwendig, um die hohe Grundabsicherung zu erhalten.
Diese Diagnose teilen die EU und die Europäische Zentralbank (EZB). Vor allem die EZB wirbt für einen europäischen Sparstandard – ein EU-weit standardisiertes Angebot an Sparprodukten mit klaren Kriterien, Transparenzvorgaben und steuerlichen Anreizen. Doch das ist nicht alles: Forscher der EZB schlagen vor, dass die Veranlagungen in diese Sparprodukte die „strategischen Prioritäten der EU“ unterstützen sollen. Übersetzt: Unternehmen in Sektoren, die die EU für genehm hält, sollen mehr Geld erhalten. Mit diesen patriotischen Umerziehungsmaßnahmen, um Gelder politisch zu lenken, würde man jedoch einen Kapitalfehler begehen. Dieser Vorschlag ist nur einer von vielen, der den bisherigen Ansatz der EU für den Aufbau vernünftiger Kapitalmärkte weiterführt. Und dass, obwohl dieser Ansatz bereits jetzt schon gescheitert ist.
Seit 2015 hat die Europäische Kommission drei sogenannte Action Plans veröffentlicht, um die Kapitalmärkte in der EU zu stärken. Insgesamt gab es über 100 legislative Vorschläge und nichtlegislative Maßnahmen. Darunter findet sich ein bereits gescheitertes Ansparprodukt, das Pan-European-Pension Product (PEPP). Das PEPP hätte ein Rahmen sein sollen, um transparente Vorsorgeprodukte zu schaffen. Nach über drei Jahren gibt es nur einen Anbieter in der EU. Das alleine spricht Bände. Die Mischung aus EU-Vorgaben wie einem Gebührendeckel und den Unsicherheiten, die aufgrund der nationalen Eigenheiten entstehen, machen das Produkt alles andere als attraktiv. Seit über zehn Jahren tüfteln die Regulatoren an der Kapitalmarktunion, fundamental geändert hat sich bisher wenig. Wieso sich gerade jetzt etwas ändern soll, und weitere Sparprodukte, die mit Sicherheit wieder in dieselben Probleme laufen werden, da helfen sollen, ist nicht nachvollziehbar. Auch das Rebranding der „Kapitalmarktunion“ in die „Savings and Investment Union“ ist nur Kosmetik und geht an den eigentlichen Problemen vorbei.
Staaten sind notorisch schlecht darin, die richtigen Gewinner auszuwählen.
Der Wunsch, das Vermögen privater Haushalte in von der EU vorgegebene Branchen zu lenken, verfehlt das Ziel. Mehr Investitionen in Kapitalmärkte sind ja genau deshalb so wohlstandsfördernd, weil das Geld dorthin fließt, wo es am produktivsten eingesetzt wird. Aber Staaten sind notorisch schlecht darin, die richtigen Gewinner auszuwählen. Sie besitzen weder die nötigen Informationen, noch sind diese „strategischen Prioritäten“ der EU frei von Lobbyismus und speziellen Interessen. Diese politische Gewinnerwahl kommt uns teurer zu stehen als potenzielle Fehlentscheidungen von privaten Unternehmen, die diese sowieso mit ihrer Insolvenz zahlen müssen. Das Resultat ist dann nicht nur, dass durch diese Investitionen weniger Wohlstand generiert wird – sondern dass Haushalte auf langfristige, nachhaltige Renditen verzichten müssen. Denn diese entstehen nicht zwingend in jenen Unternehmen, die in den politischen Plan passen.
Auch hundert weitere Vorschläge oder zentral entworfene Sparprodukte lösen das Grundproblem nicht. Um private Haushalte langfristig zum Investieren zu bringen, benötigt es ausreichend Finanzbildung gepaart mit vernünftigen Renditeaussichten. Kombiniert mit dem Wissen, dass langfristiger Vermögensaufbau auf kurz oder lang dem individuellen Bürger nicht erspart bleiben wird. Nach Jahren des verpassten Wohlstands jetzt wieder von oben vorgeben zu wollen, wie und wo dieses Geld am besten angelegt werden soll, ist unglaubwürdig. Vielmehr sollte der Fokus darauf liegen, die erdrückende Bürokratieflut radikal zu reduzieren, um Unternehmen attraktiver und wettbewerbsfähiger zu machen. So abenteuerlich es auch klingt: Unternehmen müssen unternehmerisch handeln können. Grenzüberschreitende Stolpersteine abzubauen wäre ebenso wünschenswert. Die EU hat den Weg zur Hölle mit ihren guten Vorsätzen bereits gepflastert. Jetzt braucht es aber eine Wendung um 180 Grad, um diesen Weg nicht zu beschreiten.