Was wäre, wenn Österreich nie neutral gewesen wäre?

Gerhard Jelinek ist ein österreichischer Journalist, Fernsehmoderator und Buchautor. Der Jurist und erfahrene Journalist gestaltete rund 70 politische und zeitgeschichtliche Dokumentationen und Porträts.
Was wäre, wenn Österreich nie neutral gewesen wäre?
Was wäre, wenn das schon immer alle internationalen Mächte gewusst hätten?
Was wäre, wenn der Schein das Bewusstsein der Österreicher so geprägt hätte, dass es zum Sein geworden wäre?
Die Geschichte der österreichischen Neutralität ist – sorry, to say – eine internationale Randnotiz, so wie es die schiere Existenz dieses wunderbaren Staates nach 1945 war – und sie ist ein Glücksfall.
Im Frühjahr 1943 skizziert der 35-jährige britische Botschaftssekretär Geoffrey Wedgwood Harrison aus der Abteilung „Deutsches Reich“ im britischen „Foreign Office“ ein Memorandum mit dem Titel „Die Zukunft Österreichs“. Auf dreizehn Seiten beschäftigt sich der Engländer mit der Zukunft des Donauraums, dem er eine entscheidende strategische Bedeutung für Europa gibt: „Österreich ist in mehrfacher Hinsicht der Schlüssel für die Zukunft Europas.“ Der spätere Botschafter analysiert mitten im Zweiten Weltkrieg in seinem Strategiepapier vier Varianten für die Zukunft Österreichs nach dem Krieg. Dass die Alliierten gegen Hitler-Deutschland gewinnen würden, ist nach Stalingrad schon klar. Die Varianten: Österreich bleibt als eines von vielen Ländern beim Deutschen Reich. Deutschland wird zerschlagen und das österreichische Gebiet Teil einer „süddeutschen Föderation“. Dagegen spräche aber die Abneigung der Österreicher gegen die Bayern. Die gemeinsame Ablehnung der „Preußen“ allein sei zu wenig für einen gemeinsamen Staat. Als dritte Variante schlägt Harrison die Wiederherstellung Österreichs als freier und unabhängiger Staat vor, und schließlich wird – Harrisons Variante Nummer Vier – die Einbeziehung Österreichs in eine neue „Donauföderation“ mittel- und osteuropäischer Staaten diskutiert.
Den Verbleib Österreichs bei Deutschland hält der Diplomat nicht für sinnvoll. Die Wiederherstellung eines unabhängigen Österreichs betrachtet der Brite mit Skepsis. Es gebe keine österreichische Exilregierung, und die diversen österreichischen Gruppen im Exil hätten keinerlei gemeinsame Vorstellungen über die Zukunft des Landes entwickelt. Harrison steht bei seinen Ideen unter einem gewissen Einfluss von Otto (von) Habsburg. Der Kaisersohn hat Kontakt zum britischen Premierminister Winston Churchill und bestärkt ihn in dessen Plänen, auf dem Gebiet der einstigen Habsburger-Monarchie wieder einen Staatenbund zu installieren. Diese „Donauföderation“ aus Baden-Würtenberg, Bayern, Österreich (mit Südtirol) und Ungarn soll auch einen gewissen Puffer zwischen Westeuropa und der Einflusssphäre der Sowjetunion schaffen. Hauptstadt wäre Wien geblieben. Geoffrey Harrison analysiert die Lage freilich sehr nüchtern.
Die politische Unterstützung für die Sache des Hauses Habsburg-Lothringen sei in Österreich nicht mehr weit verbreitet. Eine Restauration der Habsburger in der Alpenrepublik würde am Widerstand der Nachbarstaaten – Tschechoslowakei, Jugoslawien, aber auch Polen – scheitern. Dennoch favorisiert Churchills Mitarbeiter die mitteleuropäische „Konföderationsidee“. Sie wäre aus strategischen, politischen und wirtschaftlichen Gründen das Beste. Nur weil Harrison vorerst nicht an eine Verwirklichung glaubt, schlägt der englische Diplomat die Wiederherstellung eines unabhängigen Österreichs als „Zwischenlösung“ vor.
Bei der Moskauer Konferenz vom 19. bis 31. Oktober 1943 spielt das Schicksal Österreichs nur eine untergeordnete Rolle, die Frage steht nicht einmal auf der offiziellen Tagesordnung, und auch die Außenminister Cordell Hull für die USA, der Engländer Anthony Eden und Wjatscheslaw Molotow für die Sowjetunion überlassen die Frage Österreich einem Redaktionskomitee. Der Entwurf des britischen Jung-Diplomaten Harrison wird nur in drei Formulierungen geändert. Zwei englische Sätze entscheiden: „Austria, the first free country to fall a victim to Hitlerite aggression, shall be liberated from German domination. They regard the annexation imposed on Austria by Germany on March 15, 1938, as null and void.“ Der „Anschluss“ vom März 1938 ist „null und nichtig“.
Die NS-Führung in Berlin ignoriert die Beschlüsse der Moskauer Konferenz. Sie werden zur Grundlage der Wiederherstellung Österreichs am 27. April 1945, auch wenn es zehn Jahre dauern sollte, ehe Österreich seine volle Souveränität wiedererlangen wird.
Die Schlussphase der Verhandlungen beginnt Ende Februar 1955. Dem Wiener Botschafter Norbert Bischoff wird in Moskau signalisiert, die Sowjetunion sei jetzt bereit, Österreichs Freiheit wiederherzustellen. Bundeskanzler Julius Raab wird nach Moskau eingeladen, de facto in den Kreml zitiert. An Bord der sowjetischen „Illuschin 14“ ist eine schwarz-rote Regierungsdelegation mit Bundeskanzler Julius Raab, Vizekanzler Adolf Schärf, Außenminister Leopold Figl und dem damaligen Staatssekretär Bruno Kreisky. Sie hoffen, einen Vertrag mit nach Hause zu bringen.
Untrennbar mit den Verhandlungen, die sich bis zum Tod Stalins nur mühsam fortschleppten, war die Frage der „Allianzfreiheit“ oder später der „Neutralität“ verbunden. Wer das entscheidende Wort in die Verhandlungen einbrachte, wer es mit Inhalt erfüllte, darüber gibt es mehrere Versionen. Eine: Es war Heinrich Raab, der Bruder von Bundeskanzler Julius Raab, der im Mai 1945 ein Memorandum verfasste, in dem er „die integrale Neutralität der Schweiz“ als anzustrebendes Vorbild pries. Heinrich Raab lehrte damals im Kanton Uri am dortigen Gymnasium. Der Geschichtsprofessor schickte das Memorandum an seinen Bruder Julius und an Leopold Figl. In der Folge wurde dieser Gedanke von zahlreichen Politikern in unterschiedlichen Nuancen weiterverfolgt. Schon 1947 taucht im Parteiprogramm der ÖVP der Begriff der „Neutralität“ auf.
Der SPÖ-Politiker Karl Blecha beruft sich wiederum auf persönliche Gespräche mit Bruno Kreisky. In dessen Privatwohnung seien der russische Botschafter, aber auch Vertreter der Westmächte und Beamte des Außenministeriums zu einem Mittagessen zusammengekommen: „Bei der Gelegenheit ist Bruno Kreisky zum Bücherschrank gegangen, hat das ‚dictionaire diplomatique’ herausgeholt und beim Stichwort „Schweizer Neutralität“ nachgeschaut, wie sie dort beschrieben wird. Die Schweizer Neutralität hat man damals beim Wiener Kongress 1815 festgeschrieben und beschrieben. Und das hat er vorgelesen.“
Zwei Versionen einer Idee.
Viele Jahre bewegte sich in den Verhandlungen mit der Sowjetunion nichts. Die politische Führung der UdSSR hatte die österreichische Frage mit der Lösung der deutschen Frage verknüpft. Österreichs Staatsvertrag müsse gleichzeitig mit dem Friedensvertrag für Deutschland unterzeichnet werden. Genau diese Verknüpfung wollte Österreichs Diplomatie klugerweise vermeiden. Österreich suchte gegen den Protest des deutschen Kanzlers Adenauer den Alleingang.
In Moskau scheint das Ringen um den Staatsvertrag weiter vergeblich zu sein. Die Sowjetunion beharrt auf eine Verknüpfung der Österreichfrage mit einem Friedensvertrag mit Deutschland.
Schließlich bringt Julius Raab das Wort „Neutralität“ ins Spiel und empört damit die SPÖ-Verhandler. Beim Abendessen in der Botschaft kommt es zum Krach zwischen Raab, Kreisky und Schärf. Beide lehnen den Begriff „Neutralität“ ab. Genau diese aber will der Bundeskanzler den Sowjets bei den Verhandlungen am nächsten Tag anbieten. Schärf droht mit seiner Abreise aus Moskau. Raab lässt ihn abblitzen. „Dann fahren S’ halt nach Wien zurück, Herr Vizekanzler!“ Schärf bleibt.
Bei den Gesprächen verliest Delegationsführer Raab zunächst ein Programm mit 26 Punkten. Dem russischen Außenminister Molotow ist das zu wenig. Ein Wort fehlt: „Neutralität“. Raab bittet um eine Sitzungsunterbrechung. Die österreichische Delegation bleibt uneins. Im Alleingang macht Julius Raab das Zugeständnis: Österreich werde nach dem Muster der Schweiz neutral sein. Damit ist der Durchbruch erreicht. Einziges Zugeständnis: Die Verpflichtung zur Neutralität wird nicht im Staatsvertrag festgehalten und unterschrieben. Österreich darf diese Einschränkung seiner Souveränität „aus freien Stücken“ beschließen.
Wahr ist: Die Neutralität ist der Preis, den Österreich der Sowjetunion zu zahlen hat, die dafür bereit ist, ihre Truppen aus Österreich abzuziehen. Der Abzug der Westmächte aus dem neutralen Österreich treibt einen mehr als tausend Kilometer tiefen Keil zwischen die NATO-Staaten Deutschland und Italien und unterbricht so die Nord-Süd-Achse des atlantischen Bündnisses. Das ist das strategische Kalkül der Sowjetunion.
Im Frühjahr 1955 wird die Spaltung Europas fixiert. Am 6. Mai 1955 wird Westdeutschland ein souveräner Staat mit einer klaren Westorientierung, der der NATO beitritt. Am 14. Mai wird der Warschauer-Pakt-Vertrag unterzeichnet und nur einen Tag später Österreichs Staatsvertrag. Zufall? Es ergab sich ein gemeinsamer Nenner in der Blockpolitik des Kalten Krieges. Österreichs Freiheit ist ein Nebenprodukt dieser weltpolitischen Entscheidungen. Ein Zufall, ein Glücksfall, eine Sternstunde unserer Geschichte.
Es gehört zu den Heldensagen der Geschichtsdeutung, im Abschluss des Staatsvertrages eine „typisch österreichische“ Verhandlungsleistung zu erblicken. Immerhin mussten beim Staatsbankett in Moskau 35 Trinksprüche mit ebenso vielen gekippten Gläsern Wodka bewältigt werden mussten.
Die US-Aussenpolitik hält 1955 wenig von „Neutralität“. SPÖ-Vizekanzler Schärf trifft den amerikanischen Gesandten in Wien John G. Erhardt und zerstreut die Sorgen der USA. Der Botschafter berichtet über das Gespräch mit Adolf Schärf nach Washington: „The Austrian Government must pretend to be neutral in East-West controversy”.
„Pretend“ ist ein verräterisches Wort. Österreich müsse „vortäuschen“ neutral zu sein.
So war es dann auch. Das „Neutralitätsgesetz“ wird am 26. Oktober 1955 im Nationalrat als Verfassungsgesetz beschlossen – angeblich aus „freien Stücken“, realpolitisch als Preis für den Abzug der Sowjettruppen. Was anfangs als unzumutbare Einschränkung der Souveränität empfunden wird (die Vorläuferpartei der FPÖ stimmt 1955 gegen das Neutralitätsgesetz) wird von der Bevölkerung über die Jahrzehnte als Grundpfeiler der Zweiten Republik gesehen – und am Nationalfeiertag begangen. Ludwig Steiner, Sekretär von Kanzler Julius Raab, äußerte Jahrzehnte später Zweifel, ob eine Volksabstimmung eine Mehrheit für die Neutralität gebracht hätte.
Wir sind klein, wir sind lieb, wir tun niemanden etwas, und wenn uns jemand etwas antun will, kommen uns alle anderen zu Hilfe. Eine Lebenslüge? Ja, klar. Drei von vier Österreichern glauben auch heute noch dran. Tatsächlich entfaltet Österreichs Neutralität in den Jahrzehnten des „Kalten Kriegs“ eine segensreiche Wirkung, ob vorgetäuscht oder nicht. Im Völkerrecht kennt man den Begriff der „normativen Kraft des Faktischen“. Mit dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union reduziert sich die Neutralität auf einen kleinen Kern. Österreich akzeptiert europäische Beistandspflichten, erhebt sie ins Verfassungsrecht und lässt sie in einer Volksabstimmung zusätzlich besiegeln. Moskau akzeptiert das durch Stillschweigen. Mit Putin und Trump ist wieder alles anders, aber Österreich wird neutral bleiben – situationselastisch, aber berechenbar.
Eh wie schon immer.