Wie die Neos und Meinl-Reisinger dem Christian-Lindner-Syndrom entkommen wollen

11. November 2024Lesezeit: 4 Min.
Kommentar von Rainer Nowak

Rainer Nowak ist österreichischer Journalist und Ressortleiter für Wirtschaft und Politik bei der „Kronen Zeitung“. Zuvor war Nowak Chefredakteur, Herausgeber und Geschäftsführer der Tageszeitung „Die Presse“.

Die Entscheidung fällt heute Montag. Wer wird das dritte, Verzeihung: fünfte Rad am Koalitionswagen? Neos und Grüne stünden bereit, um eine Koalition aus ÖVP und SPÖ zu vervollständigen beziehungsweise dieser die nötige Mandatsmehrheit zu sichern. Derzeit haben die beiden früheren Großparteien zusammen nur eine absolute Mandatsmehrheit mit einer Stimme Überhang. Stabil und sicher schaut anders aus. 

Doch nach den Erfahrungen der deutschen Ampelkoalition stellt sich die Frage: Will man von einem Mandat oder einer Partei mit großem Partei(chef)ego wie Christian Lindners FDP abhängig sein. Die schnelle Antwort lautet wohl eher nein. Auf den zweiten Blick gibt es Unterschiede zur deutschen Situation: Dort waren es zwei klare Linksparteien und eine wirtschaftsliberale Partei, hier sind es einmal Mitterechts, einmal Mitteweiterlinks und einmal saisonal liberal. So gesehen haben Beate Meinl-Reisinger und die Neos trotz deutscher Ampel gute Chancen, bei den heutigen Sondierungen als erster Wunschkandidat übrig zu bleiben. Andreas Babler würde zwar lieber mit den Grünen regieren, aber was Andreas Babler will, ist in der SPÖ nicht ganz so wichtig. Und wenn in ÖVP- oder SPÖ-Ländern der Name Leonore Gewessler fällt, sind Grauen und Schrecken schlimmer als bei Lord Voldemorts in Harry Potter.  

Beate Meinl-Reisinger ist dennoch angesichts des deutschen FDP-Dramas nicht unbesorgt. Lässt sie etwa die Regierungsverhandlungen platzen, weil sie nicht jedes Details ausdebattieren und durchsetzen konnte, zeigt sie einen Mangel an Staatsverantwortung und lässt sich nur von Parteiinteressen treiben. Das war bei Christian Lindner bei den Jamaica-Verhandlungen 2017 so, als er mit CDU/CSU und Grünen abbrach. Geht Meinl-Reisinger auf zu viele groß-koalitionäre Kompromisse ein und macht zwecks Macht und Verhindern einer FPÖ-geführten Regierung mit, werden sie die Wähler abstrafen. Dann müsste sie irgendwann in den fünf (!) Regierungsjahren scharf bremsen. Das war bei Christian Lindner jetzt gerade so. 

Als Devise hat Beate Meinl-Reisinger nun daher in der Partei ausgegeben: Erstens dürfen nur sie und ihr engstes Umfeld sprechen. Zweitens: Die Neos können regieren, müssen aber nicht. Das führt drittens zur klaren Garantie: Die Neos wollen zwei, drei-Leuchtturm-Reformen (Pensionsantrittsalter-Angleichung an die Lebenserwartung als conditione sine qua non) und bei der Ressortverteilung nicht halb leer ausgehen, also zur Staatssekretär-Partei werden. Mit ihrem gewohnten Selbstbewusstsein, das Karl Nehammer so enerviert, fordert sie das Finanzministerium für sich selbst. Sollte sie das nicht bekommen, hat sie bereits öffentlich für eine weibliche Expertin geworben. Damit kann sie sich selbst gemeint haben, wahrscheinlicher ist aber, dass sie Wirtschaftsforscherin und Vertraute Monika Köppl-Turyna, Direktorin von Eco Austria, vorschlägt und in die Himmelpfortgasse bringen will. 

Denn interessanterweise will die ÖVP das Finanzressort zwar nicht der SPÖ überlassen und die wiederum nicht der ÖVP; aber viele eigene Kandidaten drängen sich auch nicht gerade auf. Ein Experte könnte daher nicht so schlechte Chancen haben. Allerdings wurde bisher eher Gabriel Felbermayr vom Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) genannt. Übrigens: Eine inhaltliche Forderung, die eigentlich ein Klassiker für die Neos wäre und in einer Wirtschafts- und Konsumflaute (!) absolut Sinn machen würde, ist die Sonntagsöffnung für den Handel. Bisher hörte man bei den Pinken nichts davon. Die Sonntagsöffnung lehnen die gewerkschaftlich dominierte SPÖ und christlich beeinflusste ÖVP zwar ab, aber mehr Chancen auf Erfüllung einzelner Forderungen bekommen die potenziell wirtschaftsliberalen Neos nie wieder. Just saying.

Jedenfalls wird das erste echte Dreier-Treffen heute auch aus einem anderen Grund spannend: Bisher hat Andreas Babler wenig Kompromissbereitschaft bei großen Themen gegenüber der ÖVP signalisiert. Eine radikale Reformansage von Meinl-Reisinger könnte Babler zu einem Njet gegenüber dem Zuckerl-Experiment provozieren. Dann wäre wohl lieber Alexander Van der Bellen dran.

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