Wie sich die EU einen „Vereinfachungsschock“ vorstellt

30. Januar 2025Lesezeit: 4 Min.
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Kommentar von Sara Grasel

Sara Grasel ist Chefredakteurin von Selektiv. Sie ist seit fast 20 Jahren Wirtschaftsjournalistin mit Stationen bei „Die Presse“, Trending Topics und brutkasten. Zuletzt war sie Chefredakteurin der Magazine der Industriellenvereinigung.

Das Micromanagement der Europäischen Union im Rahmen des „Green Deals“ hat mittlerweile deutliche Spuren hinterlassen. Unternehmen beschäftigen sich mit Papierbergen an Berichterstattung zu ESG, Lieferketten und Co. statt sich auf ihr Kerngeschäft zu konzentrieren. Und wahrscheinlich am schlimmsten: Der EU ist jegliche industriepolitische Vision aus dem Blick geraten. Die großen Zukunftsmärkte machen sich die USA und China aus – Europa sitzt nicht mehr am Tisch der Taktgeber. 

Die gute Nachricht ist, dass die EU-Kommission das erkannt hat, die schlechte Nachricht ist allerdings, dass sie das Ruder nicht herumreißt, sondern zögerlich, fast schleppend, Versuche setzt, gegenzusteuern. „Wir brauchen jetzt Tempo, denn die Welt wartet nicht auf uns“, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gestern bei der Präsentation des „Competitiveness Compass“. Dieses 26-seitige Dokument umreißt grob, wie die EU bei Innovationen aufschließen will – um genau zu sein, ist darin von einem Lückenschluss die Rede, den Gedanken bei Innovationen führend zu sein, hat man offenbar aufgegeben –, wie die grüne Transformation gelingen soll und wie man gedenkt, einseitige Abhängigkeiten zu vermeiden. 

Klingt nicht neu? Richtig erkannt! Dem vorangegangen sind vergangenes Jahr wesentlich umfangreichere Reports von Enrico Letta und Mario Draghi und es soll Ende Februar wieder etwas präsentiert werden, und zwar der „Clean Industrial Deal“. Während die EU einen Report nach dem anderen vorlegt und verzweifelt versucht, damit private Investments zu hebeln, wird in anderen Weltregionen nicht lange gefackelt. Knapp eine Woche nach dem Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump wird er von großen Unternehmen gefeiert, dass er geholfen hat, ein Projekt zu realisieren, in dem 500 Milliarden Dollar an privatem Kapital in US-weite Infrastruktur für KI-Innovationen fließen. Laut „Competitiveness Compass“ soll es durch „neue Anlageprodukte“ auf europäischer Ebene mehr Liquidität für die Industrie geben. Im Rahmen des nächsten Mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) soll außerdem ein neuer Wettbewerbsfonds eingerichtet werden. Dieser soll 1:1 private Investitionen hebeln. 

Wenig ambitionierte „Vereinfachung“ der Lieferkettenrichtine

Ein Bereich, auf den bei der Präsentation des „Competitiveness Compass“ alle Augen gerichtet waren, ist die Regulierungswut der EU. EU-Kommissar Stéphane Séjourné sprach bei der Pressekonferenz gar von einem „Vereinfachungsschock“. Die kalte Dusche sieht so aus: Im Februar startet der erste „Simplification Omnibus“. Der soll Einschnitte bei nachhaltiger Finanzberichterstattung, Sorgfaltspflichten zur Nachhaltigkeit und Taxonomie bringen.

Für das viel kritisierte Lieferkettengesetz hat die Kommission auch eine Idee. Zur Erinnerung: Die Lieferkettenrichtlinie der EU will europäische Unternehmen für arbeits- und umweltrechtliche Mängel bei Lieferanten ihrer Lieferanten ihrer Lieferanten in fernen Ländern verantwortlich machen. Dafür sind natürlich Berge an Dokumentationen und Berichten notwendig. Offiziell müssen nur sehr große Unternehmen nachweisen, dass ihre Lieferketten „sauber“ sind. Diese großen Unternehmen brauchen dafür aber natürlich die entsprechenden Nachweise von ihren kleineren Lieferanten. Die EU will deshalb eine neue Größenkategorie für Unternehmen einführen. Für bis zu 31.000 Unternehmen in der EU soll es dadurch regulatorische Entlastungen geben. Ein wenig ambitioniertes Vereinfachen einer der wildesten Auswüchse der EU-Bürokratie. Nicht zu Unrecht werden die ersten Stimmen laut, dass man das unsägliche Lieferkettengesetz komplett zu Grabe tragen sollte.

Weitere Vereinfachungen soll es auch bei der Reach-Verordnung für Chemikalien geben und am Ende will die Kommission, dass die gesamte bestehende europäische Gesetzgebung auf Potenziale durchforstet wird. 73 Milliarden Euro sollen sich Unternehmen bis Ende der Legislaturperiode sparen. 

Heute startet die EU-Kommission übrigens einen „strategischen Dialog“ mit der Automobilindustrie und weitere solche Dialoge in bestimmten Schlüsselindustrien, zu denen etwas auch die Metallindustrie oder Chemie zählt, sollen folgen. Am Ende soll dann wieder ein Plan stehen. Muss die Welt halt noch ein bisschen warten.

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