Der Ausbau erneuerbarer Energie wird mit viel Nachdruck vorangetrieben. Trotzdem wird die weltweite Nachfrage nach Öl wohl auch in den nächsten 25 Jahren nicht sinken. Das liegt an der demografischen und wirtschaftlichen Entwicklung, hat aber noch einen Grund: „Es ist ein Mythos, dass neue Energiequellen automatisch ältere ersetzen. Die Realität sieht anders aus“, sagt OPEC-Generalsekretär Haitham Al Ghais: „In vielerlei Hinsicht stimuliert das Wachstum einer Energiequelle das Wachstum einer anderen“. Erneuerbare Energien seien entscheidend für die Energiezukunft, aber: „Wir müssen uns auch darüber im Klaren sein, dass Wind- und Solarenergie derzeit nur etwa vier Prozent der weltweiten Energieversorgung ausmachen.“
Unter dem Motto „Drill Baby Drill” will US-Präsident Donald Trump die amerikanische Öl- und Gasproduktion radikal steigern. Welche Auswirkungen hat das auf den Weltmarkt?
Haitham Al Ghais: Die USA sind heute der größte Ölproduzent weltweit und ein wichtiger Teil des globalen Ölmarktes. Die OPEC wird auch weiterhin sorgfältig beobachten, wie die Unternehmen dort ihre Rohölressourcen entwickeln. Wie in allen Ländern hängt auch in den USA die Entwicklung der Produktion von einer Reihe von Faktoren ab, wie z. B. Technologien, Infrastrukturen, Finanzsysteme und letztlich die Wirtschaft. Für die OPEC ist es wichtig zu betonen, dass wir alle verschiedenen Einflüsse auf den globalen Ölmarkt überwachen. Dies ist von entscheidender Bedeutung, um sicherzustellen, dass wir das Ziel eines ausgewogenen Marktes und einer nachhaltigen Marktstabilität fest im Blick behalten.
Die Idee des „Peak Oil“ ist so alt wie die Geschichte der Ölförderung selbst. Wir hören immer wieder, dass die weltweite Nachfrage nach Öl wahrscheinlich sinken wird. Der World Oil Outlook 2024 kommt jedoch zu einem anderen Schluss und prognostiziert einen Anstieg bis 2050. Warum erwarten Sie einen solchen Anstieg?
Es gibt mehrere Gründe, warum wir keinen Höhepunkt der Ölnachfrage am Horizont sehen. Der erste Grund liegt in der demografischen und wirtschaftlichen Entwicklung. Die Weltbevölkerung wird bis 2050 voraussichtlich auf 9,7 Milliarden Menschen ansteigen. Die Verstädterung wird sich wahrscheinlich verstärken. Bis 2050 werden zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben. Die Größe der Weltwirtschaft wird sich bis 2050 voraussichtlich verdoppeln. Es wird erwartet, dass bis 2030 die fünfte Milliarde Menschen der Mittelschicht angehören wird – heute sind es noch über vier Milliarden. Es ist wahrscheinlich, dass all dies mit einem erheblichen Anstieg des Energieverbrauchs und damit auch des Ölverbrauchs einhergehen wird.
Es ist ein Mythos, dass neue Energiequellen automatisch ältere ersetzen. Die Realität sieht anders aus. Die Welt verbraucht heute mehr Kohle, Öl, Gas, Holz und Strom als je zuvor. In vielerlei Hinsicht stimuliert das Wachstum einer Energiequelle das Wachstum einer anderen. So werden zum Beispiel erdölbetriebene Maschinen und aus Erdöl gewonnene Produkte bei der Herstellung und Installation von Windturbinen, Solaranlagen und anderen erneuerbaren Energiequellen verwendet. Sie werden in Lithium-Ionen-Batterien und im gesamten Stromnetz verwendet.
Darüber hinaus müssen wir die Vielzahl an Erdöl und erdölbasierten Produkten berücksichtigen, die wir alle im täglichen Leben verwenden. Angefangen bei Verkehrsmitteln, die mit Benzin, Diesel oder Düsentreibstoff angetrieben werden, über Kunststoffe, die in Laptops, Computern und Fernsehbildschirmen verwendet werden, zu Erdölprodukten, die in der medizinischen Versorgung und in Krankenhäusern zum Einsatz kommen, bis hin zu Verpackungen, die Lebensmittel vor dem Verderben bewahren, sowie landwirtschaftlichen Produkten und Haushaltsgegenständen.
Angesichts all dieser Faktoren ist es nachvollziehbar, dass die Nachfrage nach Erdöl auch in den kommenden Jahrzehnten nicht nachlassen wird.
Wie passen die Erwartungen der OPEC an einen weiteren Anstieg des Ölverbrauchs mit dem Pariser Klimaziel zusammen?
Zunächst einmal ist hervorzuheben, dass die OPEC das Pariser Abkommen voll und ganz unterstützt, da die Mitgliedsländer das Abkommen unterzeichnet und ratifiziert haben. Es ist ebenso wichtig zu betonen, dass das Pariser Klimaziel die Reduzierung von Emissionen betrifft, nicht den Ersatz oder die Bevorzugung bestimmter Energiequellen. Der Klimaschutzprozess ist nicht dazu gedacht, politische Richtlinien vorzugeben. Die Ölindustrie muss zur Emissionsreduzierung beitragen – durch Investition in Technologien wie Kohlenstoffabscheidung, -nutzung und -speicherung, durch Effizienzsteigerung, die Reduktion von Methanemissionen und andere innovative Lösungen. Unsere Mitgliedsländer sind auch führend bei Investitionen in erneuerbare Energien.
Zudem sollte man die Agenda für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen nicht außer Acht lassen. Diese Agenda hat das Ziel, „den Zugang zu erschwinglicher, zuverlässiger, nachhaltiger und moderner Energie für alle zu gewährleisten.“ Rund 685 Millionen Menschen weltweit haben immer noch keinen Zugang zu Elektrizität und etwa 2,1 Milliarden haben keinen Zugang zu sauberen Brennstoffen zum Kochen. Diese Menschen dürfen in unserer Energiezukunft nicht vergessen werden.
Deshalb müssen politische Entscheidungsträger sorgfältig abwägen, wie sie Emissionen senken, ohne dabei die Energieversorgungssicherheit zu gefährden oder bestehende Ungleichheiten zu verschärfen. Eine universelle Lösung für das Klimaproblem gibt es nicht.
Die OPEC sieht nicht nur eine steigende Nachfrage nach Öl, sondern hat auch einen realistischeren Ansatz in Bezug auf kritische Rohstoffe gefordert. Warum ist hier mehr Realismus erforderlich?
Kritische Mineralien wie Kupfer, Kobalt, Silizium, Nickel, Lithium, Graphit und Seltene Erden bilden die Grundlage für die Entwicklung von erneuerbaren Energien und Elektrofahrzeugen. Es ist wichtig, dass wir verstehen, welche Auswirkungen ihre Gewinnung, Verarbeitung und Nutzung haben. Wir müssen das Gesamtbild betrachten, vor allem angesichts der Prognosen: Bis 2040 soll sich die Nachfrage nach kritischen Mineralien vervierfachen, für einige, wie Lithium, sogar verneunfachen. Ein derartiges Wachstum und Tempo hat es in der Geschichte noch nie gegeben.
Kurz gesagt: Dies wird zahlreiche neue Minen, invasive Abbau- und Verarbeitungsprozesse sowie enorme Energiemengen erfordern. Außerdem werden erdölbasierte Produkte für den Abbau und den Transport benötigt, ebenso wie für die Produktion von Turbinen, Solarzellen und Elektrofahrzeugen. Es wird zunehmend deutlich, dass politische Entscheidungsträger die hohen Anforderungen an kritische Mineralien in den Netto-Null-Szenarien erkennen. Dies wirft die Frage auf, wie realistisch eine kontinuierliche Steigerung der Produktion tatsächlich ist.
Welche Rolle spielen erneuerbare Energiequellen innerhalb der OPEC und wie wichtig sind Investitionen in diesem Bereich aus Sicht der Mitgliedsstaaten?
Wir betrachten erneuerbare Energien als entscheidend für unsere Energiezukunft. Alle Energiequellen sind wichtig. Aus Sicht der OPEC berichtete die Financial Times kürzlich, dass der Nahe Osten heute der am schnellsten wachsende Markt für erneuerbare Energien außerhalb Chinas ist, wobei Masdar in den Vereinigten Arabischen Emiraten, Acwa Power in Saudi-Arabien und andere OPEC-Mitgliedsländer eine Vorreiterrolle spielen. Die OPEC weiß, wie wichtig ein ausgewogener Ansatz ist.
Wir müssen uns auch darüber im Klaren sein, dass Wind- und Solarenergie derzeit nur etwa vier Prozent der weltweiten Energieversorgung ausmachen. Die globale Verbreitung von Elektrofahrzeugen liegt zwischen zwei Prozent und drei Prozent, obwohl in den letzten zwei Jahrzehnten mehr als 9,5 Billionen Dollar in den „Energiewandel“ investiert wurden.
Wir begrüßen die Fortschritte bei den erneuerbaren Energien und den Elektrofahrzeugen, aber sie reichen bei weitem nicht aus, um 80 Prozent des Energiemixes zu ersetzen. Darüber hinaus bleiben die Stromnetze, die Kapazitäten zur Herstellung von Batterien und der Zugang zu wichtigen Mineralien eine große Herausforderung.
Wo sehen Sie die größten Unterschiede in der Art und Weise, wie die Zukunft von Energie und Energiequellen in Europa und in anderen Teilen der Welt diskutiert wird? Welche Lehren sollte Europa daraus ziehen?
Die Diskussion über die Zukunft der Energie hat sich weltweit deutlich verändert. In den frühen 2020er Jahren wurde oft gefordert, Investitionen in Kohlenwasserstoffe einzustellen. Dabei wurden erneuerbare Energien als „gut“ und Kohlenwasserstoffe als „schlecht“ dargestellt, wodurch deren Bedeutung vernachlässigt wurde. Heute erkennen politische Entscheidungsträger zunehmend, dass neben der Emissionsreduktion auch Energiesicherheit und Erschwinglichkeit gewährleistet sein müssen.
So hat die Europäische Kommission vor kurzem die Notwendigkeit betont, die Klimaziele beizubehalten, aber die Vorschriften für Unternehmen zu lockern, um Europas Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Wohlstand zu fördern. Auch die Internationale Energieagentur hat kürzlich ihren Kurs geändert und betont nun, dass Investitionen in Öl und Gas notwendig sind, um die globale Energiesicherheit zu gewährleisten.
Nachdem sich die OPEC jahrelang für einen integrativen Ansatz eingesetzt hat, der alle Energiequellen, Technologien und Bevölkerungsgruppen einbezieht – und dabei oft den Eindruck hatte, die einzige Organisation zu sein, die die jährlichen Wachstumstrends der Energienachfrage sowie reale Daten zum Kohlenwasserstoffverbrauch berücksichtigt, gewinnt pragmatische Politikgestaltung weltweit wieder an Bedeutung.
Die OPEC+ Allianz (einschließlich Russland) hat sich trotz geopolitischer Herausforderungen als stabiler Faktor erwiesen. Wie sehen Sie die Zukunft dieser Zusammenarbeit?
Die Erklärung zur Zusammenarbeit, oft unter OPEC+ bekannt, bleibt voll und ganz darauf ausgerichtet, einen ausgewogenen und stabilen Ölmarkt zu gewährleisten – zum Vorteil der gesamten Branche, von Produzenten und Verbrauchern bis hin zu Investoren und der globalen Wirtschaft. Die freiwilligen Produktionsanpassungen der Gruppe haben sich dabei als äußerst wirksam erwiesen. Tatsächlich war Öl im Jahr 2024 der am wenigsten volatile Rohstoff, was weitgehend auf die Bemühungen der Erklärung zur Zusammenarbeit zurückzuführen ist.
Im neunten Jahr ihres Bestehens hat die Erklärung zur Zusammenarbeit nachweislich dazu beigetragen, Marktinstabilitäten zu überwinden – darunter den Abschwung infolge von COVID-19 sowie mehrere Phasen weltwirtschaftlicher Unsicherheit.
Dank zahlreicher bisheriger Erfolge und eines starken Engagements für Einheit und Zusammenhalt unter den Teilnehmerländern ist die OPEC+ gut aufgestellt, um die Ölmärkte auch künftig zu stabilisieren.
Zur Person
Haitham Al Ghais ist seit 2022 Generalsekretär der OPEC. Er verfügt über mehr als 30 Jahre Erfahrung in der Erdölindustrie und war in führenden Positionen bei der Kuwait Petroleum Corporation tätig. Von 2017 bis 2021 stand er dem technischen Komitee der OPEC+ vor und war in verschiedenen internationalen Gremien aktiv.