Als in Österreich das Brot ausging

Gerhard Jelinek ist ein österreichischer Journalist, Fernsehmoderator und Buchautor. Der Jurist und erfahrene Journalist gestaltete rund 70 politische und zeitgeschichtliche Dokumentationen und Porträts.
Ein historisches Beispiel, das dem Finanzminister bekannt sein dürfte.
Das tägliche Brot wird billiger. Die Wirtschaftspolizei verbucht einen Erfolg. Ab der ersten Septemberwoche soll ein „Normallaib“ Brot nicht mehr als 4,24 Euro kosten. Die großen Wiener Brotfabriken einigen sich mit der Behörde. Die Wirtschaftspolizei hat den Brotpreis als „übermäßig“ bezeichnet. Jetzt soll Brot um etwa 10 Cent billiger werden: Ist das ein erster Erfolg der von Finanzminister Markus Marterbauer vage in die Sommerluft geblasene Idee, gegen die in Österreich weiter hohe Teuerung mit staatlichen Eingriffen in die Preise vorzugehen? Könnte man glauben.
Wenn wir die Euro-Preise von heute in „Kronen“ des Jahres 1924 umrechnen und uns genau 101 Jahre in die Geschichte zurückbeamen, dann stehen wir mitten in einer vergleichbaren politischen Debatte: Soll, kann, darf ein Preis in einer freien Marktwirtschaft staatlich festgesetzt werden? Und zeitigt das den erwünschten Erfolg?
Springen wir aus der aktuellen Sommerloch-Debatte also 101 Jahre zurück. Auch im August des Jahres 1924 wird in Österreich um den Preis der Grundnahrungsmittel gestritten. Woche für Woche wird ein amtlicher Preis festgesetzt. Damit soll die seit einigen Jahren rasende Inflation eingebremst werden. Das Niveau der Verbraucherpreise hatte sich zwischen 1914 und 1924 – also in zehn Jahren – um das 14-tausendfache erhöht. Bei aller Vergleichbarkeit der Debatten doch gänzlich unvergleichbar mit der 3,5 %-Teuerung von heute. Mit amtlichen Eingriffen in die Preisfestsetzung wollen die Behörden damals niedrigere Preise in den Geschäften erzwingen. Doch die Bäcker protestieren. Die Regale bleiben leer. Der Versuch scheitert. Der Preis-Stopp-Erlass bereinigt das Chaos auch nicht.
Die Bäcker protestieren. Die Regale bleiben leer. Der Versuch scheitert.
Im August 1924 resigniert das Bundeskanzleramt und untersagt die „kollektive Festsetzung des Brotpreises“, die noch kurz zuvor als Maßnahme gegen die damals überbordende Inflation politisch gewollt war. „Brotwucher“ ist damals ein brisantes politisches Thema. Die zunächst als Erfolg gefeierte amtliche Senkung des Brotpreises macht das Kraut nicht fett. 200 Kronen entsprechen heute etwa 10 Cent. Im Sommer 1924 kostet ein 1.260 Gramm schwerer Brotlaib knapp 4,24 Euro. Im Verhältnis zur Einkommensentwicklung ist Brot heute also deutlich billiger als vor 101 Jahren, obwohl die Arbeitskosten und die Sozialabgaben um ein Vielfaches höher sind.
Die Preise für Grundnahrungsmittel waren immer politisch. In früheren Zeiten viel mehr als heute. Logisch. Arbeiterhaushalte mussten anno 1924 fast die Hälfte ihres Einkommens für einfache Grundnahrungsmittel ausgeben. Heute sind es knapp 12 Prozent (also ein Viertel von damals).
Die relativ junge Sozialdemokratie versucht mit „Konsumvereinen“ und genossenschaftlicher Produktion ein Gegengewicht zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung aufzubauen. Schon vor dem Ersten Weltkrieg gründen niederösterreichische Arbeiterkonsumvereine eine genossenschaftliche Brotfabrik. Das moderne Hammerbrotwerk an der Wiener Stadtgrenze zu Schwechat soll günstiges Brot für die sozialdemokratischen Wiener Arbeiter backen und nebenbei mit den erhofften Gewinnen auch die Partei finanzieren. Das funktioniert eher nicht. Die modernen sozialistisch geführten „Hammerbrotwerke“ expandieren zwar, der wirtschaftliche Erfolg bleibt aber überschaubar. Der Krieg rettet das rote Backexperiment vor dem Konkurs. Die „Hammerbrotwerke“ werden zu Armeelieferanten und produzieren für die k.u.k. Soldaten Zwieback. Die Kriegswirtschaft beschränkt den freien Markt. Die Preise für sämtliche Grundnahrungsmittel sind amtlich vorgeschrieben, das erlaubte Warenangebot bürokratisch limitiert. Die „Kaisersemmel“ wird Opfer des Weltkrieges. „Weißes“ Mehl wird nur in geringen Mengen den Bäckereien zugeteilt, bald ist die Bevölkerung froh, wenigstens irgendein Brot aus Ersatzstoffen zu bekommen. Erst vier Jahre nach Kriegsende können Kunden in der Bäckerei wieder eine „Kaisersemmel“ kaufen.
Auch nach 1945 verwaltet die Regierung Leopold Figl zunächst den Mangel, und kämpft darum, für die Österreicherinnen und Österreicher wenigstens das Minimum an überlebensnotwendigen Kalorien aufzutreiben. Das staatliche Preis- und Warenregime wird durch den „Schleichhandel“ und das „Hamstern“ umgangen. Butter wird oft mit Gold aufgewogen.
Mit der Stabilisierung der Wirtschaft, dem Wiederaufbau, der in die Wirtschaftswunderjahre der 1960er führt, beschleunigt sich wieder die Teuerung. 1955 drängt der ÖGB in einem „Aktionsprogramm“ auf die Errichtung einer „Preisprüfungsstelle“ unter Mitwirkung der Arbeiterkammer. Und tatsächlich wird zwei Jahre später unter dem Vorsitz von Bundeskanzler Julius Raab eine „Paritätische Kommission für Preis- und Lohnfragen“ eingerichtet. Im Gegenzug zur geforderten Regulierung von Preiserhöhungen erklärte sich die Gewerkschaftsseite dazu bereit, die Freigabe von Lohnverhandlungen mit der Arbeitgeberseite abzuklären.
Nicht zufällig vor dem EU-Beitritt wurde der letzte Erhöhungsantrag an den „Preisunterausschuss“ gestellt.
Ein„Preisunterausschuss“ war grundsätzlich für alle Preiserhöhungswünsche aller österreichischen Unternehmen zuständig. Es ist die Hochblüte der Sozialpartnerschaft, in der sich Gewerkschafter und Wirtschaftsvertreter Löhne und Preise im Kellerstübchen, etwa im Wohnhaus des legendären Kammerpräsidenten Rudolf Sallinger buchstäblich „ausschnapsen“. Damit ist es mit der zunehmenden Integration Österreichs in einen europäischen Markt und der Entwicklung zur Exportnation vorbei. Im Jahr 1994 – nicht zufällig vor dem EU-Beitritt – wurde der letzte Erhöhungsantrag an den „Preisunterausschuss“ gestellt.
Die roten Lieferwägen der Hammerbrotwerke mit dem Markenzeichen des Hammers in einem Ährenkranz gehörten Jahrzehnte zum Stadtbild – auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie waren fast so präsent wie die privaten Anker-Filialen, die das Gebäck aus der 1891 von den Brüdern Heinrich und Fritz Mendl gegründeten Großfabrik in der Landgutgasse in Wien-Favoriten beziehen. Ankerbrot war in wenigen Jahren zur größten Bäckerei Europas geworden.
Das einst genossenschaftlich organisierte Unternehmen „Hammerbrot“ leidet unter seinem ideologischen Anspruch. Ährenkranz und Hammer, da fehlt nur noch die Sichel. Trotz der Übernahme anderer Fabriken, wie etwa dem Favoritner Konkurrenten „Kronenbrot“, sind die Hammerbrotwerke immer wieder in finanziellen Nöten und bringen die roten Parteifinanzen durcheinander. Das idealistisch gemeinte Experiment scheitert. Konsumvereinsobmann Karl Renner muss die defizitäre Brotfabrik mit Gewerkschaftsgeldern retten. Die sozialdemokratische Hammerbrot wird schließlich vom Bankhaus Schoeller & Co. übernommen, mit der Ankerbrot AG fusioniert und das letzte Werk 1972 zugesperrt.