Ein englischer Diplomat legte den Grundstein für Österreichs Freiheit

Gerhard Jelinek ist ein österreichischer Journalist, Fernsehmoderator und Buchautor. Der Jurist und erfahrene Journalist gestaltete rund 70 politische und zeitgeschichtliche Dokumentationen und Porträts.
Die Gründung Österreichs im April 1945 und Österreichs Freiheit sind eine Fußnote der Geschichte. Geschrieben hat sie vor 83 Jahren ein junger englischer Diplomat: Geoffrey Wedgwood Harrison. Die Republik Österreich sollte dem 1990 verstorbenen Briten endlich ein Denkmal setzen. Der Botschaftssekretär hat einen entscheidenden Beitrag zur Wiederherstellung Österreichs als unabhängiger Staat nach 1945 geleistet. Das kam so.
Im Frühjahr 1943 skizziert der 35-jährige britische Botschaftssekretär Geoffrey Wedgwood Harrison in der Abteilung „Deutsches Reich“ des britischen „Foreign Office“ in London ein Memorandum mit dem Titel „Die Zukunft Österreichs“. Auf dreizehn Seiten beschäftigt sich der Diplomat mit dem Donauraum, dem er eine entscheidende strategische Bedeutung für Europa gibt: „Österreich ist in mehrfacher Hinsicht der Schlüssel für die Zukunft Europas.“
Während die Rote Armee 1943 an der Ostfront die Divisionen der Deutschen Wehrmacht Kilometer um Kilometer zurückkämpft, treffen einander Ende Oktober 1943 die Außenminister der USA, der Sowjetunion und Großbritanniens in Moskau zu einer Konferenz. Es geht bereits um die Neugestaltung Europas nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Für Hitler-Deutschland ist der Krieg nach der Vernichtung der 6. Armee in Stalingrad de facto verloren. Während die Nazi-Propagandisten noch den „totalen Krieg“ befeuern, beschäftigen sich die Alliierten bereits mit der Zeit nach dem absehbaren Sieg. Bis zur Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945 werden noch Millionen Menschen auf den Schlachtfeldern sterben und Millionen in den Vernichtungslagern ermordet werden.
Der Karrierediplomat Geoffrey Wedgwood Harrison analysiert in seinem Strategiepapier vier Varianten für die Zukunft Österreichs nach dem Krieg: Österreich bleibt als eines von vielen Ländern beim Deutschen Reich. Deutschland wird zerschlagen und das österreichische Gebiet Teil einer „süddeutschen Föderation“. Dagegen spräche aber die Abneigung der Österreicher gegen die Bayern. Die beiden Völkern gemeinsame Ablehnung der „Preußen“ allein sei zu wenig für einen gemeinsamen Staat. Als dritte Variante schlägt Harrison die Wiederherstellung Österreichs als freier und unabhängiger Staat vor und schließlich wird – Harrisons Variante Nr. 4 – die Einbeziehung Österreichs in eine neue „Donauföderation“ mittel- und osteuropäischer Staaten diskutiert. Dieses Projekt wird von Winston Churchill favorisiert. Der Premierminister steht in Kontakt zu Otto von Habsburg, der von einer Neuauflage der multinationalen Habsburger Monarchie unter anderen Vorzeichen träumt. Diese „Donauföderation“ soll auch einen gewissen Puffer zwischen dem Westen Europas und der Einflusssphäre der Sowjetunion schaffen.
Geoffrey Wedgwood Harrison bewertet die Aussichten einer solchen Donauföderation, die von Baden Württemberg bis Ostungarn (mit Wien als Hauptstadt) reichen sollte, sehr nüchtern. Die politische Unterstützung für die Sache des Hauses Habsburg-Lothringen sei in Österreich gering. Eine Restauration der Habsburger in der Alpenrepublik würde am Widerstand der Nachbarstaaten – Tschechoslowakei, Jugoslawien aber auch Polen – scheitern. Und auch in Österreich sehnen sich nur noch wenige nach den Habsburgern zurück. Dennoch favorisiert Winston Churchills Mitarbeiter die mitteleuropäische „Konföderationsidee“. Nur weil Harrison vorerst nicht an eine Verwirklichung glaubt, schlägt der englische Diplomat die Wiederherstellung eines unabhängigen Österreichs als „Zwischenlösung“ vor. An einen Erfolg dieses Staates glaubt er nicht. Schließlich hätten die Österreicher nicht einmal im Exil gemeinsame Vorstellungen für die Zukunft ihres Landes entwickelt.
Bei der Moskauer Konferenz vom 19. bis 31. Oktober 1943 spielt das Schicksal Österreichs aber ohnehin nur eine untergeordnete Rolle. Die Frage steht nicht einmal auf der offiziellen Tagesordnung, und auch die Außenminister Cordell Hull für die USA, Anthony Eden und Wjatscheslaw Molotow für die Sowjetunion überlassen die Zukunft Österreichs einem Redaktionskomitee. Praktisch, dass es schon einen Entwurf gibt.
Das Papier des jungen Engländers wird nur in ein paar Formulierungen geändert. Die russischen Verhandler ersetzen in der von den Engländern und Amerikanern stammenden Formel, wonach das „österreichische Volk“ eine Verantwortung trage, der es nicht entrinnen könne, das „Volk“ durch das Wort „Österreich“. Das ist zwar eigentlich falsch, weil es den Staat Österreich nach der Annexion ans Deutsche Reich nicht mehr gegeben hat, aber viele Österreicher (beiderlei Geschlechts) Verantwortung für zahlreiche Gräueltaten während des NS-Regimes tragen. Zwei englische Sätze entscheiden: „Austria, the first free country to fall a victim to Hitlerite aggression, shall be liberated from German domination. They regard the annexation imposed on Austria by Germany on March 15, 1938, as null and void.“
Der „Anschluss“ sei „null und nichtig“. So wird der Grundstein für ein unabhängiges Österreich gelegt.
Die Formulierungen der Deklaration aus der Feder von Geoffrey Wedgwood Harrison werden später weitgehend unverändert in die Präambel des Staatsvertragsentwurfs aufgenommen. Österreich habe nach der Annexion 1938 als integrierter Teil Hitler-Deutschlands am Krieg gegen die Alliierten teilgenommen. Daraus ergebe sich eine Verantwortlichkeit, die nicht vermieden werden könne. Es ist genau dieser Passus, den der österreichische Außenminister Leopold Figl am Schlusstag der Wiener Botschafterkonferenz am 14. Mai 1955 im „Haus der Industrie“ am Schwarzenbergplatz (damals Stalinplatz) im letzten Moment aus der Präambel „rausverhandelt“. Am Tag darauf wird im Wiener Belvedere der Staatsvertrag unterzeichnet – vor siebzig Jahren.
Dieser 15. Mai müsste eigentlich Österreichs Nationalfeiertag sein. Darauf konnten sich die Politiker in den 1960er-Jahren aber nicht einigen, weil es im Mai schon zu viele andere Marien-Feiertage gibt. Und für Geoffrey Wedgwood Harrison sollte jemand ein Denkmal errichten – eine kleine Gedenktafel beim Belvedere wäre auch passend.
Der junge Diplomat machte nach 1945 die übliche Karriere: Britischer Botschafter in Brasilien, dann Gesandter in Teheran und abschließend in Moskau. Seine Laufbahn endete 1968 eher unwürdig. Harrison begann eine kurze Affäre mit einem russischen Zimmermädchen. Sie war – nach seiner eigenen Beschreibung „jung und attraktiv“ – leider aber auch eine KGB-Agentin. Geoffrey Wedgwood Harrison beichtete seinen „absolut verrückten“ Fehltritt und wurde aus Moskau abgezogen. Das schmälert nicht seinen Verdienst und seine Bedeutung für Österreichs Unabhängigkeit nach 1945.